Der frühere Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen äussert sich im Interview frustriert über die führenden westlichen Politiker. Europa müsse auf Kriegswirtschaft umstellen und die Ukraine zum Nato-Beitritt einladen.
Herr Rasmussen, was würde eine zweite Trump-Präsidentschaft für die Nato bedeuten?
Eine Rückkehr von Donald Trump wäre eine Herausforderung für die Nato. Seine Aussagen, wonach die USA unter seiner Führung säumigen Nato-Mitgliedern nicht zu Hilfe eilen würden, schwächen die Glaubwürdigkeit von Artikel 5, der Beistandsklausel. Die Aussagen sind extrem gefährlich. Trump könnte jedoch nicht einfach den Nato-Austritt verfügen. Dafür benötigte er die Zustimmung des amerikanischen Kongresses, und diese würde er niemals bekommen.
Aber als Präsident könnte Trump viele andere Dinge tun, um die reale Bedeutung der amerikanischen Nato-Mitgliedschaft zu untergraben. Er könnte zum Beispiel den Gipfeltreffen der Allianz fernbleiben, Nato-Übungen boykottieren oder sich weigern, in einem Konfliktfall Truppen zum Beistand zu schicken.
Wie können sich die Nato und Europa auf eine isolationistische Trump-Präsidentschaft vorbereiten?
Zuallererst könnten die Europäer ihre Verteidigungsausgaben erhöhen. Mittlerweile erfüllen 18 von 31 Nato-Mitgliedern das Ziel, zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Verteidigung aufzuwenden.
Ist das Zwei-Prozent-Ziel überhaupt noch relevant, nun, da Krieg herrscht in Europa? Sollten nicht drei oder vier Prozent das Ziel sein?
Das unterstreicht, dass der europäische Pfeiler der Nato gestärkt werden muss. Das bedeutet, dass die EU die Zusammenarbeit im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich verstärken muss. Sie sollte einen Kommissar für Verteidigung ernennen und die Produktionskapazitäten für Waffen und Munition erhöhen. Es gibt viele Dinge, die wir tun können und tun sollten.
Dieser Tage schliessen verschiedene Länder wie etwa Deutschland bilaterale Sicherheitsabkommen mit der Ukraine. Gehen diese Abkommen über reine Symbolik hinaus?
Diese Abkommen sind wichtig. Die Länder verpflichten sich, der Ukraine in den kommenden zehn Jahren beim Aufbau einer starken Armee zu helfen, damit künftige Angriffe Russlands zurückgeschlagen werden können. Die Abkommen sind bindend und bilden Vertrauen.
Warum sollte man einem Abkommen für die Zukunft vertrauen, wenn etwa Deutschland die Ukraine schon in der Gegenwart zu wenig unterstützt und ihr Taurus-Marschflugkörper verweigert?
Da gebe ich Ihnen recht. Ich verstehe nicht, warum Deutschland keine Taurus liefert. Ebenso wenig verstehe ich, dass die Regierung Biden keine weitreichenden Atacms-Raketen liefert. Ich hatte gehofft, Bundeskanzler Olaf Scholz würde die Taurus-Lieferung bei der Unterzeichnung des Sicherheitsabkommens verkünden.
2024 droht für die Ukraine ein verheerendes Jahr zu werden, doch westliche Politiker wie Scholz oder Biden agieren nur zurückhaltend. Warum wird nicht energischer Munition für die Ukraine beschafft?
Das frage ich mich auch. Wir müssen endlich den Ernst der Lage begreifen. Putin wird nicht nachlassen, erst recht nicht bis zur amerikanischen Präsidentschaftswahl. Der Krieg wird das ganze Jahr über weitergehen. Europa muss auf Kriegswirtschaft umstellen und der Ukraine alle Waffen liefern, die sie braucht.
Was muss getan werden, damit die Menschen in Europa den Ernst der Lage begreifen?
Wir brauchen Staatschefs, die entschlossen handeln. In Kriegszeiten kann man nicht führen, indem man der öffentlichen Meinung folgt. Wir brauchen eine viel entschlossenere deutsche Regierung. Bundeskanzler Scholz ist viel zu langsam, viel zu zögerlich. Er wirkt nicht wie ein Anführer. Auch deswegen wird Deutschland nicht genügend dafür gewürdigt, dass es die Ukraine nach den USA finanziell am meisten unterstützt. Scholz müsste viel offensiver agieren.
Wie sehen Sie denn Emmanuel Macron? Frankreich liegt bei der Militärhilfe für die Ukraine nur auf Platz 17.
Das ist beschämend für eine der stärksten Militärmächte Europas.
Ausgerechnet Macron schliesst nun aber die Entsendung von Truppen nicht mehr aus. Ist das ernst gemeint oder blosses Gerede?
Das ist Gerede. Macron versucht damit, die beschämend geringe Unterstützung Frankreichs zu übertünchen. Sogar mein Land, das kleine Dänemark, leistet ein Mehrfaches an Militärhilfe.
Was hält Deutschland und Frankreich davon ab, die Ukraine stärker zu unterstützen?
Ich glaube, es hat auch mit der Weltanschauung von Macron und Scholz zu tun. Macron gab immerhin kürzlich Fehler zu, was frühere Einschätzungen zu Putin anging. Ich habe das Gefühl, mehr und mehr europäische Staatsführer realisieren, dass wir nicht einfach zu unserem gewohnten Alltag zurückkehren können. Die forschere Haltung Frankreichs sollte man in diesem Licht sehen. Ich hoffe, Frankreich wird in Zukunft dezidierter agieren.
Sie fordern, dass die Ukraine Mitglied der Nato wird. Wie soll das gehen mitten im Krieg?
Die Situation ist präzedenzlos, viele Aspekte müssen geklärt werden. Doch als ersten Schritt sollte die Nato der Ukraine eine Einladung zum Beitritt aussprechen – und zwar für das ganze Land, die besetzten Gebiete eingeschlossen.
Wird diese Einladung am Nato-Gipfel im Juli erfolgen?
Ich weiss es nicht. Aber ich möchte dem Argument entgegentreten, dass es unmöglich sei, einen Beitrittsprozess einzuleiten, solange die Ukraine noch im Krieg sei. Dieses Argument ist das falsche Signal an Putin: Er wüsste damit, dass er einfach den Krieg endlos weiterführen muss, um zu verhindern, dass die Ukraine jemals Mitglied der Nato wird. Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen.
Trotzdem muss man irgendwann klarstellen, was eine Mitgliedschaft bedeutet. Wäre die Ukraine in der Nato und würde Kiew mit Raketen angegriffen, würde sie wohl um Beistand ersuchen.
Diese Dinge müssen diskutiert werden, doch das sollte vertraulich im Rahmen des Nato-Ukraine-Rats geschehen. Zur Abschreckungsstrategie der Nato gehört, offenzulassen, wie eine Reaktion gemäss Artikel 5 aussehen würde. Und ich bin überzeugt, dass eine Nato-Mitgliedschaft Putin abschrecken würde. Denn Artikel 5 ist es auch, der Putin davon abhält, die Nachschublinien vom Westen in die Ukraine anzugreifen.
Berater der ukrainischen Regierung
A. R. · Der 71-jährige Däne Anders Fogh Rasmussen kennt sowohl die Perspektive des nationalen Parteipolitikers, der Wahlen gewinnen will, als auch die Bühne der Geopolitik: Von 2009 bis 2014 amtierte er als Generalsekretär der Nato. Zuvor hatte er fast acht Jahre lang die Regierung Dänemarks angeführt. Seine liberale Venstre-Partei erzielte in jener Zeit ihre besten Wahlresultate seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach seinem Abgang von der Nato-Spitze blieb Rasmussen weiter politisch tätig: Er wurde unter anderem Berater der ukrainischen Regierung und gründete die Stiftung Alliance of Democracies, die jährlich in Kopenhagen einen Demokratie-Gipfel abhält. In Zürich weilte Rasmussen im Rahmen seiner Beratungstätigkeit für das Finanzunternehmen Citigroup.