Was kürzlich aufgetauchte Fotografien über das Zürich der Jahrhundertwende verraten.
Es waren keine Geringeren als Kaiser Napoleon III. und die Kaiserin Eugénie, die den ersten Selfies avant la lettre zu einem weltweiten Boom verhalfen. Im Jahr 1859 liess sich Napoleon mit seiner Frau vom französischen Hoffotografen Eugène Disdéri ablichten. Die Abzüge wurden anschliessend im handlichen Format der Carte de Visite am Hof und unter Staatsbeamten verteilt.
Die kleinformatigen Visitenkarten mit Porträts darauf – statt mit der Adresse – erfreuten sich fortan einer enormen Beliebtheit. Eugène Disdéri hatte die Fototechnik dafür patentieren lassen: eine Serie von acht Bildern, aufgenommen mit einer mehrlinsigen Kamera.
Diese Methode verdrängte die älteren und teureren Verfahren der kommerziellen Porträtfotografie. Die auf Karton fixierten Bilder im Format 9×6 Zentimeter, auf deren Rückseite die Fotostudios ihre Werbung aufklebten, waren erschwinglich. Um 1880 kosteten sechs Abzüge etwa so viel wie der Tageslohn eines Arbeiters.
Wegen der hohen Nachfrage gingen im 19. Jahrhundert immer mehr Ateliers auf. Zwischen 1855 und 1915 gab es auf dem Gebiet des heutigen Zürich laut dem Amt für Städtebau hundert Fotoateliers. Die dort entstandenen Bilder vermitteln einen Einblick in den hiesigen Alltag um die Jahrhundertwende – wobei dieser nicht etwa authentisch, sondern meist arrangiert wirkt.
Es lassen sich der Stolz auf technische Errungenschaften, die Selbstinszenierung der Ober- wie der Unterschicht und Vorläufer der heutigen Fussballbildchen erkennen. Obwohl die Posierenden die Aufnahmen nicht selber machten und Fotografen aufsuchten, können sie als Passfoto- und Selfie-Ursprung gelten: Die vervielfachten Porträts kursierten damals zu Tausenden.
Bewohner des ärmlichen Aussersihl setzten sich in Szene
Von diesem Familienbildnis aus der Zeit der Hochblüte der Fotoateliers trennen die Betrachterin knapp 140 Jahre. Die Verteilung der Geschlechterrollen ist klar: Der Mann als Familienoberhaupt überragt seine Frau. Sie trägt das Kind und ein züchtiges langes Kleid.
Die Schuhe wirken schmutzig, was daran liegt, dass Zürichs Strassen noch ohne Belag waren. Dass das Schuhwerk abgenutzt aussieht, könnte auf eine bescheidenere Herkunft hindeuten. Die Posierenden sind unbekannt, Namen wurden keine hinterlegt.
Das Bild ist 1885 am Stauffacherquai im ersten Atelier der Fotografendynastie Schucht entstanden, in einem kleinen Glashaus. Obwohl die damals noch eigenständige Gemeinde Aussersihl ärmlich war, verbreiteten sich die Cartes de Visite auch hier.
Arbeiter konnten sich den Gang ins Fotostudio leisten. Im einzigen Auftragsbuch, das laut dem Amt für Städtebau aus dem Atelier Schucht erhalten ist, sind als Kunden um 1880 zudem «Italienergruppen», Uhrmacher oder Soldaten erwähnt.
Sie posierten vor gemaltem Hintergrund mit passenden Requisiten. Wegen der Belichtungszeit war langes Stillhalten notwendig. Freilich gab es «Tricks», um die Kunden in Pose zu halten, insbesondere etwa Kopfstützen, die im Bild unsichtbar blieben.
Wie aufwendig diese Inszenierung war, zeigt das Porträt der namenlosen Familie: Dort sind die Gesichtszüge des Kindes weniger scharf gezeichnet als jene seiner Eltern, wohl weil es sich im falschen Moment bewegte.
Der Fotograf des Familienbildnisses, Bruno Eduard Schucht, stammte aus Sachsen, damals ein Zentrum der europäischen Fotoindustrie. Von dort siedelten viele Fotografen in die Schweiz um, unter ihnen auch Schuchts spätere Ehefrau Emilie Planert.
Schucht und Planert lernten sich in Zürich bei der Arbeit in einem Studio an der Schifflände kennen und zogen nach der Heirat 1880 nach Aussersihl. Dort betrieben sie gemeinsam zunächst das kleine Atelier am Stauffacherquai, später ein grösseres an der Kasernenstrasse. Sie errichteten einen Glasaufbau, ganz zuoberst auf dem Dach. Um vom Tageslicht zu profitieren, taten das damals viele Zürcher Fotoateliers.
Das Atelier Schucht wurde über drei Generationen geführt und existierte fast hundert Jahre. Das Fotogeschäft bestand bis im Jahr 2000. Geführt wurde es da von Lasse Andersson, dem Schwiegersohn eines Schucht-Nachfahren. Andersson war es, der das Baugeschichtliche Archiv der Stadt Zürich im Frühling 2023 auf den Bilderschatz im Keller an der Kasernenstrasse aufmerksam machte. Der Fund von 2000 Glasplatten wanderte in die Sammlung und ist Anlass einer Ausstellung im Haus zum Rech.
Der Sohn des Ehepaars Schucht, Eduard Schucht, liess sich im Atelier mit der Aussersihler Turnverein-Fahne ablichten (um 1900, links), aber auch in Tracht (um 1905, rechts).
Handwerker posieren stolz auf dem Turm des edelsten Fotoateliers
In Aussersihl liessen sich Arbeiter privat fotografieren, in der Innenstadt wollten Firmen sie mit der verwirklichten Arbeit zeigen und beauftragten Fotostudios. Dies demonstriert die Aufnahme von 1925: Handwerker der Spenglerei Ed. Kunz posieren auf dem von ihnen erneuerten Zwiebelturm des «Metropol».
Sie haben sich pyramidenartig auf Leitern und Kuppeln aufgestellt. Einige stützen lässig einen Arm in die Hüfte, sie scheinen es nicht nötig zu haben, sich festzuhalten. Schwindelfreiheit wirkt hier selbstverständlich. Man mag sich nicht ausmalen, was passiert, wenn einer das Gleichgewicht verliert.
Dass Handwerker spektakulär inszeniert werden, war damals keine Seltenheit. Das belegen ähnliche Aufnahmen aus Schweizer Ziegeleien oder Maschinenfabriken.
Dieses Gruppenbild sticht jedoch als besonders kühn heraus, als wären die Männer Zirkusakrobaten. Aus der Aufnahme spricht ein grosser Stolz auf die moderne Bautechnik – festgehalten mit den Mitteln der modernen Fotografie. Zwei Frauen sind sogar zu sehen – eine auf dem Dach, eine im Fenster des «Metropol».
Es war eines der modernsten Geschäftshäuser von Zürich und befand sich an bester Lage nahe der oberen Bahnhofstrasse. Um 1900 übernahm Johannes Meiner dort ein Fotostudio. Er ist auch der Fotograf dieser halsbrecherischen Spengler-Werbung.
Der wie die Schuchts aus Sachsen Stammende besass fortan das grösste und komfortabelste Tageslichtatelier der Stadt. Im Parterre gab es einen Empfangsraum, ein Lift führte die Kundschaft direkt ins Studio im Dachgeschoss.
Die Meiners fotografierten viele Leute aus der Upperclass. Wohlhabende Familien, zahlreiche Firmen, Zünfter und Vereine gehörten zur regelmässigen Kundschaft.
Nahezu siebzig Jahre sollte das Atelier in Betrieb sein. Heute gehört der Nachlass mit über 100 000 Bildträgern dem Baugeschichtlichen Archiv.
«Hohe» und «niedere» Fussballklasse: wo sich die Stadtklubs ablichten liessen
Breite Bevölkerungsschichten konnten sich im 19. Jahrhundert Porträts leisten. Aber die Wahl der Fotoateliers verriet etwas über den Status. So verhielt es sich bei den beiden Zürcher Fussballklubs. Sie machten dort Gruppenbilder, wo es für sie räumlich und sozial am nächsten lag.
Der 1886 gegründete Grasshopper-Club, bis heute der Verein der Bessergestellten, lichtete sich um 1900 im edelsten Studio der Stadt ab. Über die Jahre liessen sich auch etliche Vereinsmitglieder von GC privat abbilden.
Wie in der GC-Chronik von 2023 nachzulesen ist, wohnten von den Grasshoppers bis 1920 keine ihrer Mitglieder in Wiedikon oder Aussersihl. Das war beim 1896 gegründeten Fussballklub Zürich (FCZ) anders, der eher die Arbeiterklasse vertrat. Diese Mannschaft wählte als Aufnahmeort das Tageslichtatelier der Schuchts, wie das viele kleinere und grössere lokale Vereine aus Aussersihl taten. Etwa der Rauchklub Sihlfeld, die lokale Feuerwehr oder der Knaben-Schwimmkurs in der Badeanstalt Schanzengraben.
Eine besondere Aufnahme ist das Mannschaftsfoto des FC Zürich aus der Saison 1909/10. Das Team präsentiert sich auf diesem Bild wieder in den Vereinsfarben Blau-Weiss und gestreiften Jerseys. Zuvor war der FCZ während dreizehn Jahren in rot-weiss geteilten Hemden angetreten, um sich farblich besser vom Lokalrivalen GC abzugrenzen. Nun hatte sich GC vorübergehend von der Meisterschaft zurückgezogen, und es bestand keine Verwechslungsgefahr mehr.
Mag sein, dass die Spieler von GC etwas gepflegter erscheinen als jene des FCZ, der Hintergrund des Grasshoppers-Mannschaftsfotos vom Atelier Meiner edler. Doch obwohl die Bilder zehn Jahre auseinanderliegen und trotz all den Unterschieden, die zwischen den Posierenden bestanden haben mögen, verbindet all diese Fussballer aus heutiger Sicht die Ähnlichkeit.
Ausstellung «Fotoateliers in Zürich»: Haus zum Rech, bis 31. Mai.