Weihnachts-Songs sollten uns nicht provozieren oder erheitern, sondern festlich einlullen. Immer öfter aber sind sie Anlass für Debatten und Kontroversen.
Vor vierzig Jahren schrieb George Michael den Song «Last Christmas». Im Dezember 1984 drehte er dazu das Video in Saas-Fee und fuhr einen Tag später nach London, um dort seinen Part für das Benefizlied «Do They Know It’s Christmas?» von Band Aid einzusingen.
Michael war genervt vom Erfolg des Band-Aid-Projekts, obwohl er dessen Hit promotete, es war ja für eine gute Sache. Aber sein «Last Christmas» war einfach der bessere Song. So sah er es, und es stimmt ja auch: Als Gassenhauer ist das Lied mit seiner Mischung aus Melancholie, Festlichkeit und Partyfrohsinn unschlagbar.
Ein weihnachtlicher Streit
Jetzt gibt es scharfe Kritik an Band Aid. Das Konzept sei nur der Pop-Aufguss eines arroganten Gutmenschentums, politisch naiv, wenn nicht schädlich und so gar nicht mehr zeitgemäss. Ed Sheeran zog seinen Beitrag für die neuste Auflage Band Aid 30 zurück. Der Song vertone einen neokolonialen «Retterkomplex» und betreibe «Othering», also die Konstruktion eines Anderen, Fremden, um sich selbst normal zu fühlen. «Last Christmas» von Wham! läuft unterdessen weiter auf Betriebsfeiern, Après-Ski-Partys und Weihnachtsmärkten – George Michael, der sich 1984 mit dem zweiten Chartplatz begnügen musste, würde sich freuen.
George Michael und Band Aid sind auch auf der legendären Weihnachts-Playlist «Now Christmas» vertreten, die immer wieder aktualisiert wird. Beim Durchhören ist schnell klar, dass die Jazz- und Soulstücke am besten gealtert sind. Nat King Coles «Silent Night» und «Someday at Christmas» von Stevie Wonder sind gut arrangierte Songs mit exzellenten Sängern, was man von Boney M.s «Mary’s Boy Child» und Britney Spears’ «My Only Wish This Year» nicht unbedingt behaupten kann. Auch Ed Sheeran ist in der Sammlung vertreten, gemeinsam mit Elton John trällert er «Merry Christmas». Wenn man die Stimmen der beiden so vor sich hin greinen und röhren hört, denkt man: Doch lieber Wham!.
Weihnachts-Pop darf nicht zu pathetisch sein, aber auch nicht zu albern. George Michael hatte «Last Christmas» im Kinderzimmer seines Elternhauses geschrieben, während sein Wham!-Partner unten im Wohnzimmer Fernsehen schaute. So lässig und beiläufig klingt der Song auch – ein unprätentiöses Liedchen mit einem Refrain, den man, einmal gehört, nie wieder aus den Hirnwindungen bekommt.
Das Gegenmodell zu dieser, sagen wir vollmundig: Ästhetik ist «Holiday Seasoning», das Weihnachtsalbum des Late-Night-Talkers Jimmy Fallon. 25 ironische Songs über schräge, die Weihnachtsfeier sabotierende Cousins («Weird Cousin»), Winterhandschuhe, die einsam im Schnee vor sich hin frösteln («One Glove»), und das Rentier Rudy, das die Weihnachtsnacht bitte mit seiner roten Nase erleuchten soll («Hey Rudy»). Das Ganze ist ein vertontes Augenzwinkern und passt zum Rollenprofil von Fallon, der neben Stephen Colbert und Jimmy Kimmel für die satirische Kommentierung des Zeitgeschehens im amerikanischen Fernsehen zuständig ist.
Aber ein richtiger Schmachtfetzen, bei dem man sich ein bisschen schämt, dass man ihn von nun an in Dauerschleife laufen lässt, ist nicht dabei. Die grossen Pop-Songs für Weihnachten balancieren auf der scharfen Schlittschuhkante von Sentimentalität und Heiterkeit. Christmas-Songs in Anführungszeichen sind auf Dauer hingegen anstrengend – gerade am Ende des Jahres, wenn sich alle erschöpft und überarbeitet lieber ein bisschen einlullen als intellektuell aufreizen lassen wollen.
Klassisches Liedgut
Auch auf Kultur- und Gesinnungsdebatten könnte man an Weihnachten gut verzichten, sie gehören aber mittlerweile zur Saison wie Lebkuchen und Stollen. Das Stück «Baby, It’s Cold Outside», gesungen erstmals in der Hollywood-Komödie «Neptune’s Daughter» von 1949, entfachte ab den nuller Jahren eine Diskussion über Sexismus. Es ist auf «Now Christmas» in einer Version von Ella Fitzgerald vertreten.
In dem Stück versucht sich eine Frau von ihrem Date loszueisen und fragt, nachdem er insistiert hat, sie solle bleiben, es sei doch kalt draussen: «Hey, was ist in dem Drink?» Heute klingt das creepy und #MeToo-verdächtig. Netflix hat den Song für seine neue Weihnachtsromanze «Love Hard» deshalb umtexten lassen. Mit klassischem Liedgut wie «Stille Nacht, heilige Nacht» und «O Tannenbaum» bleiben einem solche Kontroversen erspart. Oder gleich das Weihnachtskonzert von Corelli. Da gibt es gar keinen Text.