Kinder und Jugendliche mit kognitiven Störungen werden die Zürcher Aufnahmeprüfung ebenfalls probieren. Sie erhalten einen Nachteilsausgleich.
Heute Montag ist es in Zürich wieder so weit: Die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium steht an. Auch dieses Jahr werden Tausende Primar- und Sekundarschüler an allen Mittelschulen des Kantons ihr Glück versuchen. Fürs Langzeitgymnasium etwa müssen die Kandidaten folgende Teilprüfungen überstehen:
- Eine Deutschprüfung zu Sprache und Textverständnis, von 8 Uhr bis 8 Uhr 45.
- Eine Mathematikprüfung, von 9 Uhr 15 bis 10 Uhr 15.
- Und sie müssen einen Aufsatz schreiben, von 10 Uhr 45 bis 11 Uhr 45.
Wer in der Endabrechnung (dem Durchschnitt aus Vornote und Prüfungsnote) eine 4,75 oder mehr erreicht, hat die Gymiprüfung bestanden. Mitbringen am Prüfungstag dürfen die Kinder Füllfeder, Kugelschreiber, Bleistifte, Lineal, Zirkel, Geodreieck und für den Aufsatz ein Wörterbuch.
So weit, so eindeutig die Bedingungen, die für alle Teilnehmer gleich sein sollen.
Zehn Minuten mehr Zeit für alle mit AD(H)S
Doch es gibt Ausnahmen: Kinder mit einer diagnostizierten Beeinträchtigung profitieren von einem Nachteilsausgleich. Für Prüflinge mit Sehstörungen etwa werden die Aufgaben in grösserer Schrift und auf A3-Papier ausgedruckt. Schülerinnen und Schüler mit ADHS oder einer Autismus-Spektrum-Störung erhalten für jede Teilprüfung zehn Minuten mehr Zeit.
Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche (Dyslexie) bekommen ebenfalls einen Zuschlag von zehn Minuten. Dies auch in der Mathematikprüfung, die viele Textaufgaben enthält. Mit einer Beeinträchtigung des arithmetischen Denkens (Dyskalkulie) dürfen Prüflinge ebenfalls zehn Minuten länger über den Rechenaufgaben brüten. An der Prüfung fürs Kurzzeitgymnasium gibt es in Mathematik und im Aufsatz 15 Minuten obendrauf, da diese beiden Teilprüfungen ohne Nachteilsausgleich 90 Minuten dauern.
Und da die Pausen zwischen den einzelnen Prüfungen für alle Schüler gleich lang sein sollen, sollen Kinder und Jugendliche mit Nachteilsausgleich ihre Prüfung in einem «Spezialzimmer» ablegen, wie es in einer Empfehlung der Schulleiterkonferenz der Mittelschulen heisst – sofern die Schule dafür Platz habe.
Spezialzimmer bedeutet: absolute Ruhe; keine Ablenkung, damit Kinder mit kognitiven Einschränkungen sich so gut wie möglich konzentrieren können. «Gleiche Chancen für alle» kann also auch an der Gymiprüfung zu einem Sondersetting führen.
Aber was ist, wenn in einem solchen Raum besonders stille und jene Schüler aufeinandertreffen, die nicht stillsitzen können – erst recht nicht während einer 70-minütigen Matheprüfung oder beim Aufsatzschreiben?
Die Antwort lautet: Es muss irgendwie gehen. Auch in einem solchen Spezialzimmer werden die Prüflinge von einem Lehrer oder einer Lehrerin beaufsichtigt.
Ein Nachteil für alle ohne Nachteilsausgleich?
Nachteilsausgleich bedeutet nicht, dass kognitiv beeinträchtigte Schülerinnen und Schüler weniger leisten müssen als die anderen, die zur Aufnahmeprüfung antreten. Die Lernziele für die Mittelschule sind für alle Gymikandidaten gleich – zumindest in der Theorie.
In der Praxis jedoch führt das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes dazu, dass es bei der Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium eine weitere Ausnahme gibt: Kinder mit einer Rechtschreibstörung müssen nicht befürchten, deswegen durch die Prüfung zu fallen: Bei ihnen zählen Orthographiefehler im Aufsatz nicht bei der Benotung.
Ist das noch Ausgleich – oder werden Schüler ohne Beeinträchtigung durch solche Massnahmen benachteiligt? Haben Politik und Bildungsverwaltung übertrieben und ein zwar gutgemeintes, aber für die allermeisten Prüfungskandidaten unfaires Reglement geschaffen?
Diese Fragen wurden einst kontrovers diskutiert. Die SVP hatte vor Jahren verlangt, den Nachteilsausgleich bei kognitiven Schwächen abzuschaffen. «Dank Nachteilsausgleich bestehen Schüler Aufnahmeprüfungen in Maturitätsschulen, obwohl sie kaum in der Lage sind, die für den künftigen Unterricht notwendigen Leistungen zu erbringen», heisst in der Begründung des Postulats der Volkspartei.
Die Zürcher Regierung sah das anders. Anpassungen der Gymiprüfung an die «spezifischen Bedürfnisse» beeinträchtigter Schüler seien zwingend, da diese sonst schlechtergestellt wären, was dem Gleichstellungsgesetz zuwiderliefe. Ein Nachteilsausgleich werde grundsätzlich nur dann gewährt, «wenn die betreffende Person das Potenzial (für das Gymnasium) hat», schrieb die Kantonsregierung in ihrer Antwort auf den SVP-Vorstoss. Das Postulat wurde deutlich abgelehnt. Nur SVP und EDU stimmten mit Ja. Das war 2015.
Ein SVP-Kantonsrat sagt: «Man darf klüger werden»
Mittlerweile sind ausgleichende Massnahmen für Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen auch in der SVP akzeptiert. Rochus Burtscher hat das Postulat seiner Partei damals ebenfalls unterstützt. Heute sagt der SVP-Kantonsrat, der auch der Bildungskommission angehört: «Ich finde es gut, dass beeinträchtigte Schüler die Aufnahmeprüfung machen und ins Gymnasium gehen können.» Seine älteste Tochter machte mit einer Schülerin Matur, die blind war und sich den Schulstoff mit dem Zeigefinger ertastete – in Brailleschrift.
Über seine Kehrtwende in Sachen Nachteilsausgleich sagt Burtscher: «Man darf klüger werden.»
Bleibt die Frage, wie viele Schüler eine solche Massnahme in Anspruch nehmen an der Gymiprüfung. Sie muss hier offenbleiben. Dem Mittelschulamt lägen keine entsprechenden Zahlen vor, heisst es auf Anfrage. Nach der Aufnahmeprüfung machen jedoch nur wenige Gymnasiasten einen Nachteil geltend. Laut einer Erhebung unter allen 19 Mittelschulen des Kantons betrug deren Anteil je nach Gymnasium zwischen 0,65 und 3,9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler. Die meisten dieser Jugendlichen hatten eine Lese- und Rechtschreibstörung.