Unabhängig davon, wer die Präsidentschaftswahl gewinnt: Die Vereinigten Staaten haben ihre Rolle als Förderer des Freihandels aufgegeben. Es gilt nun, den Schaden zu verkleinern, den diese historische Abkehr verursachen wird.
Amerika zersetzt derzeit eigenhändig die Weltwirtschaftsordnung, die es an der Bretton-Woods-Konferenz 1944 geschaffen und seither geprägt hat. Diese Ordnung basierte auf freiem Handel und offenen Marktwirtschaften nach amerikanischem Vorbild. Sie hat Milliarden Menschen aus der Armut geführt und der Welt einen nie da gewesenen Wohlstand beschert.
Auch die Vereinigten Staaten selbst haben es nie so gut gehabt wie heute: Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit ist tief, Löhne und Konsumausgaben steigen.
Dennoch haben die Amerikaner das Vertrauen in dieses System verloren, was sich im Wahlkampf spiegelt. Kamala Harris und Donald Trump sprechen nicht von offenen Märkten oder neuen Handelsverträgen, wie sie ihre Vorvorgänger noch abschlossen.
Die Kandidaten wetteifern darum, wer Amerikas Arbeiter und deren Familien besser beschützen kann: vor Immigranten, vor gierigen ausländischen Grossunternehmen oder vor günstigen Autos aus China und Mexiko.
Dabei propagieren sie unterschiedliche Mittel: Trump will die Wirtschaft durch immer neue Zölle schützen, Harris das Netz an Subventionen für einheimische Firmen und Arbeiter weiter ausbauen, das Präsident Joe Biden aufgespannt hat.
Und doch verfolgen beide im Kern eine protektionistische Agenda, die den amerikanischen Konsumenten ärmer machen und dem Rest der Welt schaden wird.
Schutz statt Freiheit
Harris und Trump sagen indes nur, was die Amerikaner derzeit hören wollen. Mit Freihandel ist in den USA derzeit kein Staat zu machen. Donald Trump beklagte schon in seiner Antrittsrede als Präsident 2017 ein «amerikanisches Blutbad»: «verrostete Fabriken, die wie Grabsteine über die Landschaft unserer Nation verstreut sind.»
Er führte in seiner ersten Amtszeit Handelskriege mit China, aber auch mit Verbündeten wie Europa, Mexiko oder Kanada, und er bremste die Welthandelsorganisation (WTO) aus.
Die Industriejobs hat er damit nicht nach Amerika zurückgebracht, doch er polte die republikanische Partei um. Die Freihändler sind darin nun Randfiguren, junge Stimmen wie der 40-jährige J. D. Vance, Trumps Kandidat für die Vizepräsidentschaft, überbieten sich mit fast schon klassenkämpferischer Rhetorik.
Während Joe Bidens Präsidentschaft haben die Demokraten indes nachgezogen. Sie betreiben Industriepolitik in einem Ausmass, wie es seit Franklin D. Roosevelt im Zweiten Weltkrieg keine amerikanische Regierung getan hat.
Mit milliardenschweren Hilfsprogrammen baut Biden die Wirtschaft nach staatlichen Vorgaben um; und hat damit den Europäern und Asiaten einen Freipass erteilt, ihrerseits protektionistische Industriepolitik zu betreiben. Trumps Zölle gegen China behielt Biden im Wesentlichen bei, und er machte wenig Anstalten, die WTO wiederzubeleben.
Die Vertreter der alten Ordnung wehren sich: Ökonomen wie Michael Strain, von der liberalkonservativen Denkfabrik American Enterprise Institute, lassen kaum ein gutes Haar am Umbau der amerikanischen Handels- und Wirtschaftspolitik.
Weder Trumps noch Bidens Protektionismus hätten ihre Ziele erreicht, schreibt er. Weder sei das Handelsbilanzdefizit verschwunden, noch habe man sich von China abgenabelt oder der amerikanischen Industrieproduktion wieder jenen Stellenwert verschafft, den sie früher hatte. Doch habe der Protektionismus beider Regierungen dem amerikanischen Konsumenten geschadet.
US Steel oder: Der beste Freund ist ein Sicherheitsrisiko
Strain hat recht. Dieser Schaden zeigt sich sehr gut im traurigen Seilziehen um die Zukunft von US Steel. Der Stahlhersteller hat den Anschluss an die Konkurrenz verloren. Seine Fabriken sind veraltet, doch dem Unternehmen fehlt das Geld, um sie zu modernisieren.
Daher verpestet es die Luft um Pittsburgh mit Feinstaub und anderen krebserregenden Stoffen – wie zu den «guten alten Zeiten», nach denen sich Amerika scheinbar zurücksehnt.
Eine Studie von 2018 kam zu dem Schluss: Hunderte Anwohner sterben jährlich wegen der hohen Luftverschmutzung. In der Kleinstadt Clairton, wo eine uralte Kokskohle-Fabrik von US Steel steht, wurde 2020 eine Atemwegsklinik eröffnet – weil die Kinder hier dreimal häufiger an Asthma erkranken als anderswo.
Vor bald einem Jahr legte der Konkurrent Nippon Steel eine Kaufofferte für US Steel vor. Nippon Steel hätte die Mittel und einen Plan, um die veralteten Fabriken umzurüsten und sauberer zu machen, doch die Übernahme droht an der Politik zu scheitern.
Kamala Harris und Donald Trump argumentieren beide, die amerikanische Stahlbranche sei nur in amerikanischen Händen sicher. Das Argument wirkt lächerlich. Nippon Steel stammt aus Japan, dem wohl treuesten Verbündeten der USA überhaupt.
Schamlose Gewerkschaften
Dass sich Harris und Trump als Beschützer des einfachen Arbeiters aufspielen, gibt den Gewerkschaften mehr Einfluss. Sie nutzen ihre neue Macht dazu, jegliche Neuerungen abzuwehren, die ihren Status gefährden könnten. Die Stahlarbeitergewerkschaft führt den Kampf gegen Nippon Steel an.
Noch weiter geht die International Longshoremen’s Association (ILA), welche die Hafenarbeiter an der Ost- und der Golfküste der USA vereinigt. Sie rief Anfang Oktober einen Streik aus, um 77 Prozent mehr Lohn einzufordern.
Geeinigt hat sie sich mit den Hafenbetreibern auf 62 Prozent bis 2030, obwohl viele Hafenarbeiter schon heute 200 000 Dollar verdienen. Der ILA-Chef selbst lässt sich 900 000 Dollar auszahlen, wohnt in einer riesigen Villa und fährt Bentley. Sein Sohn ist der Vizepräsident der Gewerkschaft und verdient 700 000 Dollar.
Die ILA will aber noch mehr – nämlich einen Verzicht auf jegliche Automatisierung an «ihren» Häfen, obwohl manche davon gemäss Untersuchungen der Weltbank schon jetzt zu den unproduktivsten der Welt gehören.
Kritik am Gebaren der reichen Maschinenstürmer konnte sich so kurz vor dem Wahltermin aber kein Präsidentschaftsanwärter leisten. Harris und Trump stellten das Ganze daher als Kampf amerikanischer Arbeiter gegen reiche ausländische Grossunternehmen dar.
Die resultierenden hohen Transportkosten sind faktisch aber eine Ein- und Ausfuhrsteuer, die zu grossen Teilen von der amerikanischen Industrie und ihren Mitarbeitern bezahlt wird. Also von jenen Amerikanern, für die sich Kamala Harris und Donald Trump einsetzen wollen.
Woran die «alte» Globalisierung krankte
Noch haben sich die USA nicht aus dem Welthandel verabschiedet – die Schweiz etwa handelt so intensiv mit Amerika wie noch nie. Aber die Weltwirtschaftsordnung ist brüchig geworden. Die USA sollten es nicht dazu kommen lassen, dass sie wegen neuer Handelskriege komplett zerbricht.
Einerseits würden die amerikanischen Konsumenten unter Retorsionsmassnahmen anderer Staaten, teureren Importen und einer neuen Inflationswelle leiden. Andererseits verlören die Vereinigten Staaten einen wichtigen Teil ihrer Anziehungskraft für andere Länder – und damit auch an Einfluss im Ausland.
Doch auch die glühendsten Befürworter des Freihandels müssen anerkennen, dass eine Rückkehr zum alten Konsens unrealistisch ist. Sie sollten die neue Regierung immerhin dazu drängen, die echten Probleme des alten Systems anzugehen, ohne dabei dessen Vorzüge weiter zu zerstören.
Zwei Probleme, welche die USA noch aus der Ära von Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama erbten, stechen dabei heraus: der Umgang mit China und die Verteilung des Wohlstands.
Trump kann zu Recht für sich in Anspruch nehmen, nach 2017 als Erster entschlossen gegen die unfairen Handelspraktiken Chinas vorgegangen zu sein. Doch setzte die Regierung sich falsche Ziele – das bilaterale Handelsbilanzdefizit wegzubringen – und erreichte wenig.
Die USA sollten daher gezielter und im Gleichschritt mit den Verbündeten gegen die Fouls aus Peking vorgehen. Und besser zwischen Handels- und Sicherheitspolitik unterscheiden.
Es ergibt Sinn, die Lieferketten von sicherheitsrelevanten Gütern wie modernsten Halbleitern aus Chinas Einflussbereich fernzuhalten. Ein 100-Prozent-Zoll auf chinesische Turnschuhe und Spielsachen bringt dagegen herzlich wenig.
Die Globalisierung machte die Vereinigten Staaten als Ganzes wohlhabender, aber die Gewinne waren sehr ungleich verteilt. Die Tech-Branche in Kalifornien oder die Hochfinanz an der Ostküste profitierten, viele Landstriche in den alten Industrieregionen im Mittleren Westen verloren ihre wichtigsten Unternehmen und stürzten in eine schwere Krise.
Ziel müsste es sein, die Gewinne aus einer offenen Handelspolitik zu nutzen, um die Verlierer besserzustellen. Steuergutschriften, wie sie Harris und Trump vorschlagen, sind ein taugliches Mittel dafür.
Der Bundesstaat kann zudem mithelfen, dass entlassene Amerikaner leichter eine neue Arbeit finden, und Randregionen unterstützen, indem er schlechte Schulen und die Verkehrsanbindung verbessert. Bidens Subventionsprogramme tun das teilweise schon, aber auf wenig zielgerichtete Art.
So schnell werden die Amerikaner ihre Liebe für den Freihandel nicht wiederfinden. Aber die Globalisierung hat sich schon immer schubweise weiterentwickelt und wird es weiterhin tun; hoffentlich wiederum dank Amerika.
Die Kunst wird es sein, aus den Fehlern zu lernen, um den nächsten Globalisierungsschub sozialverträglicher zu gestalten. Das wäre eine grosse, aber würdige Aufgabe für den nächsten Präsidenten – oder die nächste Präsidentin – der Vereinigten Staaten.