Der Politik und der Wirtschaft schwebt ein Schutzmechanismus gegen eine hohe Zuwanderung aus der EU vor. Denkbar sind verschiedene Varianten. Aber gerade für die Wirtschaft haben sie teilweise Nachteile.
Plötzlich spricht sich auch die Wirtschaft für eine Schutzklausel gegen die Zuwanderung aus der EU aus. Monika Rühl, die Direktorin des Verbandes Economiesuisse, hat in der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens jüngst gefordert, dass der Bundesrat eine solche in den Verhandlungen mit der EU verlangt.
Ein Vertragsartikel, der Wunder bewirken soll
Das Thema des Schutzmechanismus ist seit einigen Wochen auf dem Tisch. Anfang Jahr führte der Bundesrat eine Konsultation durch zum Common Understanding, das die Schweiz mit der EU als Vorstufe zu einem neuen bilateralen Vertrag vereinbart hatte. Die aussenpolitische Kommission des Nationalrats bat den Bundesrat dabei, mit der EU über den Artikel 14.2 des Freizügigkeitsabkommens (FZA) zu sprechen. Dieser könnte einen gewissen Spielraum bieten, die Zuwanderung zu beschränken.
Konkret besagt der Artikel, dass «bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» in der Schweiz «Abhilfemassnahmen» möglich seien. Beschliessen muss sie aber der gemischte Ausschuss, und gelten dürfen sie nur vorübergehend.
Der Geist ist nun aus der Flasche, die Diskussion über eine «Abhilfemassnahme» bei der Zuwanderung entbrannt. Diese so zu gestalten, dass sie sich einerseits mit der Personenfreizügigkeit vereinbaren lässt, anderseits eine Wirkung entfaltet, ist jedoch schwierig. Die Wirtschaft ist zudem ein dynamisches Gebilde, eine Klausel hingegen ein statisches Instrument. Das verträgt sich schlecht miteinander. Was wäre theoretisch möglich?
Varianten von Schutzmechanismen
- Ein EU-Parlamentarier hat jüngst in einem Gespräch die Idee aufgebracht, dass die Schweiz sektorspezifische Quoten einführen könnte. Die Gastrobranche weist zum Beispiel eine relativ hohe Arbeitslosigkeit auf. Doch deren Interpretation ist komplex. In Restaurants und Hotels arbeiten viele Hilfskräfte. Ihr Risiko, die Stelle zu verlieren, ist unabhängig von der Branche überdurchschnittlich gross. Und so hoch die Arbeitslosenquote in der Gastronomie ist: Ausgebildete Köche sind trotzdem sehr gesuchte Fachkräfte, und zwar in ganz Europa.
- Statt einer sektoriellen wäre auch eine geografische Quote denkbar, etwa für bestimmte Grenzregionen. Gerade dort befinden sich aber dynamische Städte wie Genf, Lugano und Basel mit einer hoch entwickelten Wirtschaft. Entsprechend gesucht sind Spezialisten. Die Firmen müssen sich um sie bemühen, ein langwieriges Bewilligungsverfahren werden sie kaum akzeptieren. Vielmehr könnte es zu ähnlichen Konflikten wie einst bei den Kontingenten für Arbeitskräfte von ausserhalb der EU kommen. Hier beklagten sich Zürcher IT-Firmen vor einigen Jahren, dass die damals rasch expandierende Firma Google die Kontingente aufsaugen würde und sie zu kurz kämen.
- Für Kroaten, die sich in der Schweiz niederlassen wollen, besteht derzeit eine Schutzklausel. Das Land ist 2013 der EU beigetreten, seit 2022 geniessen seine Bürger auch in der Schweiz die volle Personenfreizügigkeit. Im November 2022 hat der Bundesrat allerdings die Schutzklausel ausgerufen und sie ein Jahr später um 12 Monate verlängert. Das ist laut dem Zusatzprotokoll (Artikel 10) zum FZA erlaubt, falls die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen 10 Prozent über dem Durchschnitt der drei Jahre zuvor liegt. Doch diese Schutzklausel lässt sich nicht einfach so auf den vielzitierten Artikel 14.2 des FZA übertragen. Vielmehr handelt es sich um eine Übergangsbestimmung, welche auch die EU gegenüber Neumitgliedern kennt. Als zum Beispiel die Länder Mittelosteuropas 2004 dem Staatenbund beitraten, befürchteten die alten Mitglieder, dass das grosse Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West eine Wanderungsbewegung auslöse. Grossbritannien oder Irland liessen die Freizügigkeit trotzdem sofort zu, Deutschland und Österreich entschieden sich dagegen für eine Übergangsfrist. Grossbritannien erlebte eine Überraschung. Die Politiker hatten prognostiziert, dass rund 60 000 Migranten pro Jahr ins Land kommen würden, tatsächlich belief sich deren Zahl auf 600 000.
- Auch die Schweizer Politiker haben die Zuwanderung aus der EU regelmässig unterschätzt, wenn sie dazu Vorhersagen machten. Meist war sie um ein Vielfaches höher als die Prognosen. Hier setzt eine mathematische Formel von Michael Ambühl an, dem ehemaligen Staatssekretär und Unterhändler der Bilateralen II. Gemäss ihr könnte die Schweiz die Einwanderung aus der EU beschränken, wenn diese über einen Zeitraum von drei Jahren vom Durchschnitt der Binnenmigration in den EU- und Efta-Ländern abweicht. Weitere Variablen verfeinern die Formel: etwa die Dynamik der Arbeitslosigkeit in der Schweiz im Vergleich mit der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit in den EU-Ländern und vor allem der Bestand an EU-Ausländern. Ambühls Formel ist allerdings mathematisch so gestaltet, dass sie nur zum Zuge kommt, wenn die Migration in die Schweiz vom Mittelweg in der EU stark abweicht. Sie bedient also nicht das Gefühl des Dichtestresses, sondern setzt bei einem Ausnahmefall an.
Die EU gibt sich wenig diskussionsfreudig
Die Schweizer Unterhändler stehen also vor einer kniffligen Aufgabe. Wirtschaft und Politik haben beim Thema Schutzklausel Erwartungen geschürt. Doch Dichtestress ist eine subjektive Empfindung, die sich nur schwer in eine einfache Formel giessen lässt.
Die EU-Kommission verteidigt den Binnenmarkt, zu dessen Säulen der freie Personenverkehr zählt. Vergangene Woche hat der Staatenbund mit dem Kleinstaat Andorra einen bilateralen Vertrag abgeschlossen. Bei einem Anlass dazu hat Kommissar Maros Sefcovic auf entsprechende Fragen erneut betont, dass das Common Understanding den Leitfaden für die Verhandlungen mit der Schweiz bilde. Im Klartext heisst das: Die EU will nicht über den Artikel 14.2. verhandeln, schlicht weil er im Common Understanding nicht angeschnitten wurde.
Ob das Sefcovic wirklich so meint oder ob er aus taktischen Gründen rhetorisch eine harte Linie vertritt, weiss nur er. Bundesratspräsidentin Viola Amherd hat jüngst gegenüber der EU auffallend oft betont, dass sich die Personenfreizügigkeit nach den Bedürfnissen des Schweizer Arbeitsmarktes richten müsse.
Da gerät die Schweizer Wirtschaft etwas in einen Erklärungsnotstand, wenn sie nun einen Schutzmechanismus verlangt. Damit weckt sie zumindest den Anschein, als ob sie der Ansicht wäre, dass sich Zuwanderung und Arbeitsmarkt jüngst entkoppelt hätten. Die Initiative «Keine-10-Millionen-Schweiz!» der SVP hat die Wirtschaft aber offenbar stark aufgeschreckt.