Hillel Neuer, Direktor der NGO UN Watch, will den Schweizer Parlamentariern von seinen Erfahrungen mit dem Palästinenserhilfswerk erzählen. Amnesty ist empört.
«Wenn ein Lehrer an einer Schweizer Schule sagen würden: ‹Bringt alle Juden um›, was passiert dann?» Hillel Neuer stellt eine rhetorische Frage. Natürlich würde der Lehrer entlassen. «Wir stellen doch niemanden vor eine Schulklasse, der zum Massenmord aufruft oder Adolf Hitler glorifiziert!» Doch an den Schulen des Palästinenserhilfswerks UNRWA geschehe regelmässig das Gegenteil, sagt Neuer – vielleicht müsse ein Facebook-Post gelöscht werden, der Lehrer bleibe aber im Dienst.
Neuer ist der Direktor der NGO UN Watch, einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Genf. Sie sieht ihren Zweck darin, die Aktivitäten und Beschlüsse der als Israel-kritisch verdächtigten Uno zu überwachen und zu untersuchen. Am Montag informiert Neuer, ein kanadischer Anwalt, die Aussenpolitische Kommission (APK) des Nationalrats über die Verbindungen der UNRWA mit der Hamas.
Allzu nervös dürfte Neuer nicht sein, schliesslich hat er von wenigen Monaten eine vielbeachtete Rede vor dem US-Repräsentantenhaus gehalten. Und doch kommt dem Auftritt in Bern eine übergeordnete Bedeutung zu.
Nationalräte werden mit Mails bombardiert
Es geht um eine der derzeit umstrittensten Fragen der Bundespolitik – wie auch die Dutzende E-Mails und Anrufe bezeugen, welche die Aussenpolitiker in diesen Tagen von verschiedener Seite erhalten: Soll die Schweiz weiterhin Millionenbeträge zuhanden des Palästinenserhilfswerks UNRWA sprechen, oder muss die notleidende Bevölkerung im Gazastreifen auf anderen Wegen unterstützt werden?
Bei der letzten APK-Sitzung wurde der UNRWA-Chef Philippe Lazzarini in Genf angehört. Laut verschiedenen bürgerlichen Parlamentariern hat er – nach der Sistierung der 20 Millionen Franken, welche die Schweiz bis anhin jährlich überwiesen hatte – die Chance jedoch verpasst, Werbung in eigener Sache zu machen. Sein Auftritt sei trotzig und anklagend gewesen, heisst es. Jedenfalls stimmte eine Mehrheit der Kommission dafür, bei nächster Gelegenheit auch noch eine andere Stimme zu vernehmen.
Keine ist dabei so kräftig wie die von Neuer. Seit Jahren wiederholt er auf allen möglichen Plattformen, dass die UNRWA von der Hamas unterwandert sei. Der NZZ schildert Neuer etwa die unrühmliche Karriere von Suhail al-Hindi, der als UNRWA-Lehrer in den Führungskreis der Hamas aufgestiegen ist. Der Fall ist gut dokumentiert und steht exemplarisch für die Verquickung zwischen dem Hilfswerk und der Terrororganisation.
Der Sudan als humanitäres Beispiel
Hindi hatte sich bereits als Student der Muslimbruderschaft angeschlossen, wurde Rektor einer UNRWA-Primarschule und Chef der Gewerkschaft, die das Personal des Uno-Hilfswerks vertritt. Als ihn die UNRWA 2011 wegen seiner Nähe zu Hamas-Grössen suspendierte, streikten Tausende Lehrer im Gazastreifen. Hindi gewann das Kräftemessen und konnte auf seinen Posten zurückkehren. 2017 wurde er schliesslich ins Hamas-Politbüro bestellt. «Es ist nicht der UNRWA-Direktor, der managt, was an den Schulen des Hilfswerks passiert, sondern Typen wie Suhail al-Hindi», sagt Neuer.
Seine Argumentation ist konsequent anklagend und drängt die UNRWA in die Defensive. Typisch für ihren Ton und den Umgang mit Fakten ist die Reaktion auf einen Bericht von UN Watch über extremistische Aussagen von 22 Mitarbeitern des Hilfswerks in den sozialen Netzwerken aus dem Jahr 2021. Die UNRWA schreibt, die Vorwürfe kämen von einer Organisation «mit einer langen Geschichte von unbegründeten und politisch motivierten Behauptungen». Nur 10 der 22 genannten Personen seien UNRWA-Mitarbeiter gewesen.
Für Neuer ist klar: Das Hilfswerk muss «zerschlagen und ersetzt» werden. Die Palästinenser in Gaza lebten in einer furchtbaren Situation, aber es gebe durchaus Alternativen: «Im Sudan werden 10 Millionen Menschen humanitär versorgt – ganz ohne die UNRWA», argumentiert Neuer: «Die Uno ist also in der Lage, Hilfe zu leisten, ohne auf eine Organisation mit Hindi und seinen Kumpanen angewiesen zu sein.»
Vor der APK des Nationalrats wird Neuer ebenfalls über Hindi sprechen – und die Erfahrungen seiner Organisation mit dem Hilfswerk. UN Watch habe «Hunderte von Belegen» dafür, dass die Lehrer sinngemäss sagten: «Ich liebe Adolf Hitler, er hätte seinen Job mit den Juden beenden sollen.» Doch der UNRWA-Direktor habe Kontaktversuche ignoriert: «Können wir uns treffen? Keine Antwort. Soll ich Sie in Genf, Amman oder New York treffen? Keine Antwort.»
Aufruhr in Genf
Unter anderem deshalb will Neuer mit UN Watch das internationale Genf aufmischen: Wie kaum ein anderer hat er es verstanden, dass man sich mit einer schlagkräftigen NGO am Uno-Zweitsitz Gehör verschaffen kann – möglicherweise noch mehr als in der Zentrale in New York. So können Organisationen, die (wie UN Watch) am Menschenrechtsrat akkreditiert sind, regelmässig im Plenum auftreten und damit in der Folge auch ihr eigenes Publikum bedienen.
Nicht zu unterschätzen ist in dieser Hinsicht, dass NGO politisch exponierte Personen aus Drittländern aus Visumsgründen einfacher nach Europa – und damit nach Genf – einfliegen können als in die USA. Neuers Truppe nutzt die sich bietenden Plattformen jeweils geschickt aus. Für reichlich Aufsehen sorgte etwa 2017 die Rede eines ehemaligen Hamas-Mitglieds im Menschenrechtsrat, das im Namen von UN Watch auftrat. Er griff die Palästinensische Autonomiebehörde derart heftig an, dass manch ein Diplomat im Saal nur noch perplex in die Runde starrte.
Solcher Klartext scheucht die Genfer Uno- und NGO-Szene auf, deren verinnerlichte Israel-Kritik wenig Widerspruch duldet. Neuer und seiner Organisation schlägt deshalb regelmässig Empörung entgegen. Tenor: Trotz dem unverdächtigen Namen sei UN Watch weder objektiv noch neutral, sondern schlicht ein Handlanger des israelischen Staates.
Auch das Heks wird angehört
Entsprechend konsterniert reagiert Amnesty Schweiz auf den Auftritt Neuers vor der APK. Dass er angehört werde, sei «extrem beunruhigend». UN Watch könne keinesfalls als Organisation betrachtet werden, die «zuverlässige und unabhängige Informationen» abgebe, sondern vertrete im Zusammenhang mit der Zivilbevölkerung von Gaza und weiteren Nahostländern eine «äusserst gefährliche Position». Kurz: Teile man die Haltung von UN Watch, akzeptiere man eine Ausweitung der Hungersnot, schreibt eine Amnesty-Mediensprecherin auf Anfrage.
Das sind harte Aussagen gegenüber einer Organisation, die im Umfeld der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gegründet worden ist. Neuer weist gegenüber der NZZ darauf hin, dass der Versuch, ihn zu diskreditieren, System habe: «Es ist ein typisches Stereotyp, dass alle, die sich in irgendeiner Weise gegen die antiisraelischen Vorurteile aussprechen, automatisch Marionetten Israels sein müssen.» Er wehre sich mit seiner Organisation gegen die Doppelmoral, die gegenüber Israel angewandt werde.
Um Stimmen wie diese offiziell zu vernehmen – und um Neuers pointierte Aussagen gegenzuschneiden –, entschied sich die APK bereits im März, am Montag auch noch eine propalästinensische Organisation einzuladen. Sie schrieb mehrere NGO an, die sich darauf einigten, das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks) zu «schicken».
Parlamentarier verlangen Alternativen
Dessen Vertreter dürfte einen schweren Stand haben. Es wird zwar Anträge geben, angesichts der akuten Lage einen Teil der 20 Millionen Franken zugunsten der UNRWA zu sprechen. Eine Mehrheit der Kommission scheint aber gewillt, die Uno-Organisation ganz von der Empfängerliste zu streichen.
Das heisst nicht, dass das Geld eingespart werden soll. Gemäss einem Antrag von EDU-Nationalrat Erich Vontobel soll der Betrag an alternative Hilfswerke gehen, die weder in dem Verdacht stehen, Verbindungen zur Hamas zu haben, noch einen jüdischen Hintergrund haben. Welche genau, will er nicht verraten, das IKRK oder das Heks seien es aber nicht. «Von mir aus kann das Geld am Dienstag gesprochen werden», sagt er.
So schnell kann es allerdings nicht gehen. Sofern der Antrag eine Mehrheit findet, würde er als Kommissionsmotion überwiesen – und müsste zuerst einmal von der ständerätlichen Schwesterkommission und schliesslich von beiden Räten diskutiert werden.