Seit 1953 überwachen Schweizer Armeeangehörige den Waffenstillstand zwischen Nord- und Südkorea. Was kann die älteste militärische Friedensmission heute noch leisten?
Am 38. Breitengrad, der Nord- und Südkorea trennt, herrscht entweder Friedhofsruhe oder höchste Alarmstufe. Dazwischen liegen Sekunden. So geschehen, als 2017 ein nordkoreanischer Soldat mit einem Militärjeep auf die Demarkationslinie zuraste. Seine Verfolger versuchten den Deserteur mit Schüssen zu stoppen. Wenige Meter vor der Linie rammte der Jeep ein Hindernis. Der Überläufer blieb, schwer verwundet, auf südkoreanischem Boden liegen. Später schleppten ihn südkoreanische Soldaten in Sicherheit.
Im vergangenen Juli sprang der Adrenalinspiegel in Panmunjom in die Höhe, als ein amerikanischer Soldat in Zivil sich unvermittelt von einer Besuchergruppe absetzte und auf die nordkoreanische Seite der demilitarisierten Zone spurtete. Travis King wurde von den Nordkoreanern verhaftet und nach mehreren Monaten in die USA abgeschoben.
Mit Äxten zu Tode gehackt
An diesem Wintertag gibt es keine besonderen Vorkommnisse – bis auf der nordkoreanischen Seite plötzlich eine Gruppe von Uniformierten auftaucht und sich mit energischen Handbewegungen an Sträuchern und Bäumchen zu schaffen macht. Mit Macheten hacken hagere Männer Äste ab und werfen sie einen Abhang hinunter.
«Sie wollen die Sicht auf die südkoreanische Seite verbessern», so kommentiert Divisionär Ivo Burgener die Arbeiten bei einem Rundgang entlang der militärischen Demarkationslinie, der provisorischen Grenzlinie zwischen den verfeindeten Bruderstaaten. Nördlich davon erheben sich riesige Antennen und ein Wachtturm. Die grauen Gebäude der nordkoreanischen Soldaten werden beinahe vom ebenso grauen Himmel verschluckt.
Seit Juli 2022 leitet Burgener die Schweizer Delegation der sogenannten Neutral Nations Supervisory Commission (NNSC) – ein Gremium, dem die Schweiz seit sieben Jahrzehnten angehört. Burgener trägt einen Tarnanzug der Schweizer Armee, am einen Arm ein Aufnäher mit dem Schweizerkreuz, am anderen das Verbandsabzeichen der neutralen Überwacher: eine Karte der geteilten koreanischen Halbinsel.
Im Sommer 1950 hatte Nordkoreas Diktator Kim Il Sung, der Grossvater des jetzigen Herrschers, Südkorea angegriffen. Den Invasoren stellte sich eine von Amerika angeführte Koalition von Uno-Truppen entgegen. Der Krieg, bei dem rund drei Millionen Menschen getötet wurden, endete am 27. Juli 1953 bloss mit einem Waffenstillstand. Das Abkommen war Grundlage für die neutrale Überwachungskommission. Diese soll dazu beitragen, dass der eingefrorene Konflikt nicht wieder «auftaut».
Die Kriegsparteien im Süden wählten Schweden und die Schweiz in die Überwachungskommission. Daher stehen das Schweizer und das schwedische Camp südlich der Demarkationslinie. Das kommunistische Nordkorea entschied sich für die damaligen Bruderstaaten Tschechoslowakei und Polen und quartierte die Delegierten auf seinem Territorium ein. Die vier Nationen sollten die Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens kontrollieren, bis dieses nach einer Übergangsphase von einem Friedensvertrag abgelöst würde.
Dieses Ziel erreichten die Kriegsparteien in den letzten 70 Jahren nicht einmal ansatzweise. Im Gegenteil. Das Risiko einer Eskalation liegt ständig in der Luft. 1976 mündete das vermeintlich harmlose Zurückstutzen eines Baumes in ein Blutbad. Amerikanische und südkoreanische Armeeangehörige wollten Äste wegschneiden, die ihnen die Sicht versperrten. Nordkoreanische Grenzer fühlten sich provoziert und gingen plötzlich mit Äxten auf die Soldaten los. Zwei Amerikaner wurden getötet. In Panmunjom erinnert ein Marmorstein zwischen exakt gestutzten Stauden an diesen Zwischenfall.
Veränderte Aufgaben
Aus der Beobachtungsmission ist inzwischen der am längsten dauernde friedensfördernde Einsatz der Schweizer Armee geworden. 970 Schweizer haben seit 1953 in Panmunjom gedient. Über die Jahrzehnte hat sich der Charakter der Mission indes stark gewandelt. Der Schweizer Delegation gehörten ursprünglich 96 Soldaten inklusive Feldprediger an. Inzwischen ist sie auf 5 Offiziere geschrumpft.
Auch die Aufgaben der Überwachungskommission sind nicht mehr dieselben. Nach Kriegsende überprüften die Inspektionsteams Militärpersonal und Kriegsmaterial an zehn Standorten auf der koreanischen Halbinsel. Dadurch sollte verhindert werden, dass sich die früheren Kriegsparteien wieder aufrüsten.
Heute beteiligt sich die Kommission an Untersuchungen von vermuteten Waffenstillstandsverletzungen, sie inspiziert Wachtposten oder beobachtet die Grossmanöver der südkoreanischen und der amerikanischen Streitkräfte. Wichtigste Fragestellung: Sind die militärischen Übungen primär defensiver Natur?
Zudem klären die Offiziere, inwiefern südkoreanische Soldaten mit Techniken der Deeskalation vertraut sind, zum Beispiel: «Wie wäre bei einer Schussabgabe aus dem Norden zu reagieren? Wie erkennt man, ob mit einer feindlichen Absicht gehandelt wurde oder ein Schuss allenfalls unbeabsichtigt erfolgte?», erklärt Operations Officer Patrick Truffer.
Stark vermint und elektrisch geladene Zäune
Zum Einsatz kommen die Mitglieder der Überwachungskommission auch, wenn etwa nordkoreanische Fischer auf südkoreanischem Territorium aufgegriffen werden. Oberstleutnant Truffer befragte als neutraler Beobachter einen Fischer, ob er aus Versehen in südkoreanische Gewässer geraten sei oder ob er Fluchtabsichten gehegt habe. Der Fischer wollte nicht mehr in die verarmte Diktatur zurück.
Die Schweizer Delegation lädt an diesem Nachmittag im Aufenthaltsraum der Schweden zum Gespräch. Das Swiss Camp wird nämlich gerade für die Verabschiedung eines Offiziers hergerichtet. An der Wand hängt ein Bild des schwedischen Königspaars. Die Militärangehörigen trinken Espresso, dazu gibt es Schweizer Schöggeli.
Panmunjom befindet sich in einer Pufferzone, die sich nördlich und südlich des 38. Breitengrades über je zwei Kilometer erstreckt. Ein gelbes Metallschild, vom Rost angefressen, markiert die Demarkationslinie. In diesem entmilitarisierten Sektor sind nur tragbare Waffen erlaubt. Ausserhalb davon haben indes zwei hochgerüstete Armeen ihre Waffenarsenale aufeinander gerichtet. Die 241 Kilometer Landgrenze, stark vermint und mit elektrisch geladenen Zäunen gesichert, ist ein praktisch unüberwindbarer Todesstreifen.
Der Fall der Berliner Mauer erschütterte Panmunjom
Die dramatischen Umwälzungen in Osteuropa Ende der 1980er Jahre brachten auch in Panmunjom die Ordnung durcheinander. Die von Nordkorea und China bestimmten Mitglieder Polen und Tschechoslowakei gehörten nicht mehr zum kommunistischen Lager und wurden von Nordkorea nicht mehr als neutrale Mitglieder der Kommission anerkannt. Als Polen den Rauswurf nicht akzeptierte, stellte Nordkorea dessen Camp kurzerhand Wasser und Strom ab.
Während sich die Tschechoslowaken schliesslich zurückzogen, reisen Polen noch zwei Mal pro Jahr für Sitzungen nach Panmunjom. Einzig Schweden und die Schweiz erhalten ihre Präsenz vor Ort aufrecht, allerdings mit beschränktem Bewegungsradius. War es ihnen früher erlaubt, sich auch auf nordkoreanischem Boden zu bewegen und vertrauensbildenden Kontakt zu pflegen, ist dies nicht mehr möglich.
Ist Friedensförderung sinnvoll, wenn die eine Konfliktpartei das gar nicht will? Nordkoreas Ausscheren erschwert ohne Zweifel die Bemühungen um Stabilität. Doch ein Abbruch der Mission steht nicht zur Diskussion, da man sich dadurch Nordkoreas Obstruktionskurs fügen würde. Divisionär Burgener, der früher Schweizer Missionen in Bosnien-Herzegowina und Kosovo kommandierte, sagt es so: «Der einzige Grund, unser Engagement zu beenden, wäre die Unterzeichnung eines Friedensabkommens.» An dieser Position halten auch die Gastgeber, Südkorea und die USA, fest. Sie finanzieren zwei Drittel der Kosten der Überwachungskommission. Die Eidgenossenschaft beteiligte sich 2023 mit rund 1,5 Millionen Franken.
Erhöhtes Risiko eines Zwischenfalls
So wie sich in Panmunjom Stillstand und Hektik abwechseln, schwingt das Pendel auf der diplomatischen Ebene zwischen Annäherung und Feindseligkeit hin und her. Vor fünf Jahren spazierten Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un und der damalige amerikanische Präsident Donald Trump in Minne über den 38. Breitengrad. Es bestanden Hoffnungen für einen «Deal» zwischen Amerika, der Schutzmacht Südkoreas, und Nordkorea. Die Schalmeienklänge hielten nicht lange an. Im Moment sind die Beziehungen wieder höchst angespannt.
Im November 2023 lösten die Nordkoreaner als Reaktion auf eine Teilsuspendierung Südkoreas ein Militärabkommen auf, bei dem sich beide Seiten zu deeskalierenden Massnahmen verpflichtet hatten. Seither bauen sowohl Nord- wie Südkoreaner Grenzbefestigungen aus – und in Panmunjom tragen die Soldaten plötzlich wieder Waffenholster. «Das Risiko steigt, dass sich eine Seite nicht nur provoziert, sondern direkt angegriffen fühlt», sagt Divisionär Burgener. «Die Folge könnte ein ungewollter Zwischenfall sein.»
Am späten Nachmittag unseres Besuchs kehrt in Panmunjom Friedhofsruhe ein. Niemand weiss, wie lange sie währt.