Der Stress in der Schule hat zugenommen. Eine neue Studie zeigt: Ob sich die Kinder in der Klasse wohlfühlen, hängt wesentlich von ihrer Beziehung zur Lehrperson ab. Das zeigt sich auch im Lernerfolg.
Physik war nicht das Lieblingsfach von Julia Mori. Doch wenn sie sich an die Physikstunden in ihrer Schulzeit erinnert, leuchten ihre Augen. «Wir liebten unseren Physiklehrer. Er war so toll und positiv, dass wir alle gerne in seinen Unterricht gingen, auch wenn wir nicht so gut waren», erzählt Julia Mori, die später selbst Lehrerin wurde.
Heute ist sie Unterrichtsforscherin am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Bern. Im Team von Tina Hascher, der Leiterin der Abteilung Schul- und Unterrichtsforschung, erforscht sie im Nationalfondsprojekt Wesir (Well-being in School in Switzerland, siehe Kasten), was eine Schule besser macht, in der sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen.
Schülerinnen und Schüler in der Schweiz sind gestresst
Das Beispiel von Julia Mori zeigt, wie selbst ein ungeliebtes Fach zur Wohlfühloase werden kann. Doch die Realität sieht vielerorts anders aus. Viele Schweizer Kinder und Jugendliche sind immer mehr gestresst von der Schule. Der zunehmende Leistungs- und Selektionsdruck, die Erwartungshaltung von Lehrpersonen und Eltern, aber natürlich auch die Herausforderungen der Persönlichkeitsentwicklung in der Pubertät nagen an der psychischen Befindlichkeit der Schulkinder.
Vor einem halben Jahr ergab die Auswertung des Schweizer Astes der internationalen HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children), die alle vier Jahre den Gesundheitszustand von 11- bis 15-jährigen Kindern und Jugendlichen erhebt, dass 2022 hierzulande 34 Prozent der Schülerinnen und Schüler Stress in der Schule hatten. Der Anteil gegenüber der Erhebung von 2018 ist um 8 Prozent angestiegen. Auch die Anzahl der Kinder mit einem Burnout in der Schule wächst, und der sogenannte Absentismus, also das Fernbleiben von der Schule, ist ein grosses Problem.
Für Tina Hascher sollte das Wohlbefinden im Klassenzimmer deshalb vermehrt berücksichtigt und gezielt gefördert werden. «Dabei geht es nicht um Kuschelpädagogik», sagt Hascher. «Fühlen sich die Schülerinnen und Schüler und auch die Lehrpersonen in der Schule wohl, wirkt sich das positiv auf das Lernen aus, auch wenn die Effekte nicht immer direkt sichtbar sind.»
In ihrem Projekt haben die Berner Unterrichtsforscherinnen das Wohlbefinden in rund vierzig Sekundarklassen aus den Kantonen Aargau, Bern und Solothurn ermittelt. Zudem wollen sie herausfinden, welche Faktoren das Wohlbefinden beeinflussen. Darüber hinaus haben die Forscherinnen sechs Übungen zur Förderung des Wohlbefindens der Schülerinnen und Schüler entwickelt, die sie derzeit evaluieren.
Die Auswertung der ersten beiden Erhebungen in den Jahren 2022 und 2023 bei rund 750 Schülern hat gezeigt, dass das Wohlbefinden der Sekundarschüler im zweiten Jahr merklich sinkt. Sie empfinden weniger Freude an der Schule, haben mehr Sorgen und auch öfter körperliche Beschwerden im Zusammenhang mit der Schule. «Dass das Wohlbefinden von der ersten zur zweiten Sekundarklasse abnimmt, ist typisch in der Schweiz, denn das zweite Jahr ist für die Schülerinnen und Schüler anspruchsvoller, weil die Berufswahl und die Lehrstellensuche anstehen», sagt Julia Mori.
Unterricht als Beziehungsarbeit
Eine zentrale Rolle für das Wohlbefinden im Klassenzimmer spielt die Beziehung, welche die Lehrpersonen mit den Zöglingen aufbauen können. Eine gute und unterstützende Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schülern fördert ein erfolgreiches Lernen, wie verschiedene internationale Studien gezeigt haben.
Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie hat 2009 in seiner berühmten Studie «Sichtbares Lernen» über hundert Faktoren, die beim Lernen eine Rolle spielen, einem rigorosen Evidenztest unterzogen und so auf ihre Wirksamkeit geprüft. Eine Lehrer-Schüler-Beziehung, die auf Kooperation und Akzeptanz beruht, gehörte dabei zu einem der wichtigsten Erfolgsgaranten in der Schule, weit vor der Fachkompetenz der Lehrperson.
Dass Lernen in erster Linie ein sozialer Prozess ist, sagt auch Tina Hascher: «Wenn sich die Kinder wahrgenommen fühlen und ermutigt werden, fällt der Lernstoff auf fruchtbaren Boden, fast egal, welche Unterrichtsmethode die Lehrperson einsetzt.» Denn die Schülerinnen und Schüler spüren schnell, dass sie nicht nur Wissen vermittelt erhalten, sondern auch im Wissenserwerb unterstützt werden. Ein Schulversuch, den die Unterrichtsforscherin vor einigen Jahren in Realklassen des Kantons Bern durchführte, hat dies eindrücklich aufgezeigt.
In diese Klassen wurden die leistungsschwächsten Schülerinnen und Schüler der Primarschule eingeteilt. In dem Versuch bemühten sich die Lehrpersonen der untersuchten Klasse von Beginn an um ein unterstützendes Schulklima, das frei von der Einstellung «Du bist nicht gut in Mathematik» sein sollte.
Zudem stärkten die Forscherinnen gezielt die Motivation der Schülerinnen und Schüler und fragten sie auch nach den Emotionen, die sie dem Fach entgegenbrachten. Nach kurzer Zeit profitierten die Schülerinnen und Schüler, die schlechte Leistungen und ein negatives Gefühl aus der Primarschule mitgebracht hatten, vom neuen Wohlbefinden, was letztlich auch ihren Leistungen förderlich war. «Das Ergebnis zeigt, dass das Wohlbefinden ein wichtiges pädagogisches Konzept sein kann», sagt Tina Hascher.
Lehrpersonen fördern Klassenzusammenhalt
In einer weiteren Teilstudie haben die Berner Unterrichtsforscherinnen die unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen dem Beziehungsgeflecht im Klassenzimmer und dem Wohlbefinden untersucht und die Ergebnisse kürzlich im Fachjournal «International Journal of Educational Research Open» veröffentlicht.
Dabei zeigte sich, dass eine gute Beziehung der Lehrpersonen zu den Schülerinnen und Schülern auch die Beziehungen der Jugendlichen untereinander verbessert und das Wohlbefinden in der ganzen Klasse fördert. Unterstützende Lehrpersonen spielen so ein Rollenmodell vor und wirken wie eine unsichtbare Hand, die das Klima im Klassenzimmer positiv beeinflusst.
Ob das Wohlbefinden den Lernerfolg langfristig positiv beeinflusst, ist allerdings nicht eindeutig nachweisbar. Dieser Frage ist auch die Pisa-Auswertung von 2022 nachgegangen. Dabei wurde das Wohlbefinden mit der Frage gemessen, wie sehr sich die Schüler ihrer Schule zugehörig empfinden. Die Resultate wurden mit der Leistungsstärke in Mathematik verglichen. Die Ergebnisse drifteten im internationalen Vergleich erheblich auseinander.
In einigen der leistungsstärksten Länder fühlten sich die Lernenden tatsächlich überdurchschnittlich wohl, etwa in der Schweiz, Korea und Japan. Genauso oft gab es jedoch leistungsstarke Länder, in denen das Zugehörigkeitsgefühl unterdurchschnittlich war, etwa in Singapur, Hongkong, Estland oder Kanada.
Gute Schüler und Schülerinnen unter Leistungsdruck
Dafür könnten auch die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse verantwortlich sein, die sich selbstverständlich im Schulsystem widerspiegeln. Eine andere Erklärung für diese widersprüchlichen Resultate könnten die Ergebnisse einer weiteren Studie geben, in der Julia Mori und Tina Hascher den Zusammenhang von unterschiedlichen Aspekten des Wohlbefindens und der schulischen Leistung untersuchten. Dabei konnten auch sie keinen direkten Einfluss des Wohlbefindens auf die schulische Leistung feststellen.
Andererseits wirkte sich die Leistung auf die Befindlichkeit der Jugendlichen aus. Schülerinnen und Schüler mit guten Leistungen hatten ein höheres Selbstwertgefühl und mehr Freude an der Schule. Doch trotz ihren guten Leistungen litten die leistungsstarken Jugendlichen auch. Sie hatten zum Beispiel genauso viele Sorgen in der Schule oder körperliche Beschwerden wie die Kinder mit weniger guten Leistungen.
Eine mögliche Erklärung hierfür: Gute Schülerinnen und Schüler stehen auch unter einem Leistungsdruck, der sich negativ auf das psychische Wohlbefinden auswirken kann – etwa durch die Erwartungen von Eltern und Lehrpersonen, die sie erfüllen möchten. «Deshalb ist es so wichtig, alle Aspekte des Wohlbefindens in der Schule zu betrachten», sagt Julia Mori.
Eine Schule, in der das Wohlbefinden hoch ist, wirkt sich laut Tina Hascher vor allem indirekt positiv aus. Für die erfahrene Unterrichtsforscherin ist der pädagogische Nutzen einer glücklichen Schule viel umfassender. «Sie bewirkt eine bessere Unterrichtsqualität, sie beeinflusst die Beziehungen der Lehrpersonen zu den Schülerinnen und Schülern positiv und legt somit die Grundlage für ein produktives Lernen», erklärt die Unterrichtsforscherin. «Und sie fördert eine positive Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler.» Denn Schule ist mehr als nur pauken und büffeln, sondern beeinflusst auch, mit welcher Haltung und Zufriedenheit die Schülerinnen und Schüler später durch das Leben gehen.
Die Wesir-Studie
Wohlbefinden unter der Lupe
Verschiedene Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass das Wohlbefinden für Schülerinnen und Schüler ein wichtiges Element für ein erfolgreiches Lernen ist. Die Berner Erziehungswissenschafterin Tina Hascher und ihr Team erforschen deshalb in der mehrjährigen Nationalfondsstudie Wesir (Well-being in School in Switzerland), was eine «glückliche Schule» ausmacht.
Im Zentrum steht eine quantitative Studie, in der das Wohlbefinden von über 750 Sekundarschülerinnen und -schülern sowie von deren Lehrpersonen aus den Kantonen Bern, Aargau und Solothurn in drei aufeinanderfolgenden Jahren erhoben wird. Ergänzend werden in Interviews qualitative Daten erhoben. Zudem evaluieren die Forschenden konkrete Strategien und Interventionen, die das allgemeine Wohlbefinden im Klassenzimmer fördern sollen.
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