Mal waren Zölle schuld, mal Währungsturbulenzen, mal fehlende Konkurrenzfähigkeit oder Hilflosigkeit angesichts neuer Technologien: Die Schweizer Uhrenindustrie hat in ihrer Geschichte schon manche Krise erlebt. Was sich daraus für heute lernen lässt.
Es klang ein wenig nach Weltuntergang: «Trüber als je ist der Rückblick auf das vergangene Jahr, dunkel wie nie zuvor der Ausblick auf das kommende», schrieb die NZZ in ihrem Leitartikel zum Jahreswechsel 1921/22.
Die düstere Stimmung hatte reale Gründe – auch und gerade für die Schweizer Uhrenindustrie. Die Umstellung von der Kriegswirtschaft auf die zivile Uhrenproduktion war nur holpernd vorwärtsgekommen, Währungsturbulenzen in wichtigen Märkten belasteten die Industrie, und schliesslich verschärfte eine heftige Inflation im Inland die Lage.
Die Folgen waren drastisch: Allein 1921 brachen die Uhrenexporte um 49 Prozent ein – der stärkste Rückgang seit Einführung der Exportstatistik im Jahr 1885. Und, so der Uhrenhistoriker Bruno Bohlhalter: «Die Arbeitslosigkeit stieg ins Unermessliche, laut den behördlichen Schätzungen betraf sie im August 1921 rund 65 bis 75 Prozent aller Beschäftigten in der Uhrenindustrie.»
Industriespionage in den USA
Es war allerdings weder die erste noch die letzte Krise der Branche – und auch nicht die schwerste. Der in Tokio lehrende Professor Pierre-Yves Donzé hat die Krisengeschichte der Uhrenindustrie eingehend untersucht und kam zu einem verblüffenden Ergebnis: Seit 1886 erlebt die Schweizer Uhrenindustrie im Durchschnitt nahezu jedes dritte Jahr eine Krise. Rezessionen sind also fester Bestandteil des Uhrengeschäfts.
Allein im sogenannten «langen 19. Jahrhundert» – von der Französischen Revolution bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs – gab es siebzehn Krisen in der Branche. Dies wiederum ist der Dissertation von Frédéric Scheurer zu entnehmen, dem historisch versierten Direktor der Handelsschule in La Neuveville. Darunter waren kleinere, rasch überstandene Einbrüche, aber auch schwere Erschütterungen mit tiefen Spuren.
Besonders gravierend war eine Krise in den 1870er Jahren – und sie führte zu einer denkwürdigen Reise.
1876 war es, als der Schweizer Ingenieur und spätere technische Direktor von Longines, Jacques David, seine Koffer packte und in die USA aufbrach. Sein Ziel: so viele Erkenntnisse wie möglich über die amerikanische Uhrenindustrie zu gewinnen. Im Grunde handelte es sich um nichts anderes als um Industriespionage, denn David und sein Reisegefährte besuchten führende Uhrenfabriken, insbesondere Elgin und Waltham, und beobachteten dabei die Abläufe «sehr genau» – allerdings «heimlich und ohne Wissen der besuchten Unternehmen», wie Bohlhalter in seinem Buch «Unruh – die schweizerische Uhrenindustrie und ihre Krisen im 20. Jahrhundert» schreibt. In einem 108-seitigen Rapport hielt David seine Beobachtungen fest – garniert mit detailreichen Skizzen über Produktionsmethoden und Werkzeugmaschinen der amerikanischen Marken. Man konnte das Dokument sehr wohl als Anleitung zum Bau einer modernen Uhrenfabrik lesen.
Die Schweizer Neugier hatte einen guten Grund: Die bahnbrechenden Entwicklungen in den USA hatten seit geraumer Zeit brutale Spuren in der Buchhaltung der heimischen Marken hinterlassen: 1873, 74 und 75 brachen die Uhrenexporte ein – hatte man 1872 noch 366 000 Uhren in die USA exportiert, waren es fünf Jahre später knapp 50 000. Und 1876 kam es an der Weltausstellung in Philadelphia definitiv zur Demütigung. Die Amerikaner bewiesen mit ihren Exponaten, wie industrielle Massenware punkto Produktionseffizienz, Herstellungskosten, Zuverlässigkeit und Präzision die gute alte Schweizer Uhr geschlagen hatte. Hierzulande hatte das Unheil parallel mit der in solchen Fällen üblichen Teufelsspirale seinen Lauf genommen: Überproduktion, Lageraufbau, forcierter Verkauf, Preiszerfall.
Schon in den 1930er Jahren gab es Schutzzölle «à la Trump»
Relevant ist das historische Kapitel – oft als «Schock von Philadelphia» bezeichnet – wegen der energischen Reaktion in der Schweiz. Befeuert von Jacques Davids Bericht, setzte umgehend eine forcierte Industrialisierung ein: Von 1882 bis 1901 stieg die Zahl neuer Uhrenfabriken laut Bohlhalter von 72 auf 647. Noch besser: An Chronometrie-Wettbewerben trocknete die Schweiz die Amerikaner bald wieder ab, glänzte mit Präzision und setzte sich als Uhrennation Nummer eins erneut an die Spitze.
Auch bei der erwähnten Krise von 1921 blieb man nicht untätig. Hier reagierte der Bund mit einem Novum und stützte erstmals eine vor dem Kollaps stehende Industrie mit finanzieller Hilfe: Der Bundesrat beantragte beim Parlament einen Kredit von 20 Millionen Franken, der tranchenweise freigegeben wurde. Nach 9,1 Millionen war Schluss – die Wirtschaft hatte sich wieder aufgerappelt und hatte das Geld nicht mehr nötig.
Bis es zwischen 1927 und 1933 zum nächsten Absturz kam. Diesmal war vordergründig die Grosse Depression schuld – doch getroffen wurde eine Branche, die bereits geschwächt war. Der Grund waren Schutzzölle im Ausland, vor allem in den USA.
Zölle, so muss man wissen, betrafen ganze Uhren, aber nicht ihre Bestandteile wie Zahnräder, Platinen, Triebe oder Federn. Und so kam es zur sogenannten Chablonnage. Man exportierte statt ganzer Uhren deren Komponenten und liess sie vor Ort zusammenbauen. Das Ausmass dieser Praxis war enorm, allein in Pforzheim in Baden-Württemberg waren zum Beispiel tausend Uhrmacher mit der Montage von Uhren beschäftigt, auch Deutschland hatte nämlich Schutzzölle eingeführt.
Von der Chablonnage zum Uhrenkartell
Wertmässig, so Bruno Bohlhalter, seien die Umsätze der schweizerischen Uhrenindustrie 1930 um 23 Prozent eingebrochen, in den beiden darauffolgenden Jahren nochmals um weitere 38 beziehungsweise 40 Prozent. Und von den rund 34 000 Angestellten der Branche waren gut 20 000 ganz oder teilweise arbeitslos.
Nicht weniger besorgniserregend: Ausländische Konkurrenz hatte dank der Chablonnage schönen Anschauungsunterricht vor Ort – wovon Marken wie Bulova Watch in den Vereinigten Staaten oder Citizen in Japan profitieren konnten.
Ewig wollte und konnte man da nicht zuschauen, wie der Historiker Donzé schreibt: «Um dieser Praxis ein Ende zu setzen, unterzeichneten die Fédération Horlogère Suisse und die Komponentenhersteller 1928 Uhrmacher-Konventionen, die 1934 vom Bund anerkannt wurden und zum Uhrenkartell führten.»
Was die Chablonnage verbieten sollte, geriet rasch zu einer Art Wohlfühlpaket für die Branche, welche jeden Wettbewerb weitgehend ausser Kraft setzte. Festgeschrieben war im Uhrenstatut ziemlich alles, was die Branche betraf, zum Beispiel, wer in welcher Fabrik wie viele Angestellte beschäftigen konnte. Oder, akkurat aufgeteilt auf dreissig Sparten, wer genau was produzieren durfte. Fabrik-Erweiterungen oder -Neueröffnungen waren bewilligungspflichtig, ebenso der Export von Rohwerken und anderen Bestandteilen. Bis 1962 entsprach die schweizerische Uhrenindustrie faktisch einem staatlichen Monopol. «Man hat die Uhrenindustrie buchstäblich zu Tode geschützt», kommentiert trocken Bruno Bohlhalter.
Tatsächlich konnte das Uhrenstatut zwar für viele Akteure sehr angenehm sein, die Innovationskraft indes förderte es nicht. Bohlhalter hat berechnet, wie die Produktivität in den folgenden drei Jahrzehnten vor sich her dümpelte: 1929 wurden 20,7 Millionen Uhren gebaut, das waren 386 Stück pro Mitarbeiter, 1950 lag man bei 24,2 Millionen, 402 Stück pro Mitarbeiter.
Der wahre Kern der Quarzkrise
Das mag auch einer der Gründe sein, die letztlich zur sogenannten Quarzkrise in den späten 1970er Jahren führten: Das Adjektiv «sogenannt» drängt sich deshalb auf, weil die Quarzuhr in der ersten Phase der Krise noch keine Ursache dafür war. Vielmehr war es der japanischen Konkurrenz gelungen, gerade bei der mechanischen Uhr konkurrenzlos günstig und doch hochpräzise zu sein und etwa ab den 1960er Jahren auch an Chronometrie-Wettbewerben für genaue Uhren die Schweizer Konkurrenz alt aussehen zu lassen. «Die Quarzuhr verstärkte anschliessend lediglich einen bereits bestehenden Wettbewerbsvorteil, der auf organisatorischer Innovation beruhte», schreibt der Historiker Donzé.
Und die Folgen waren dramatisch: Von 1975 bis 1984 brach in der Schweiz die Produktion mechanischer Uhren von 51,3 auf 8,7 Millionen Stück ein, die Zahl der Beschäftigten fiel von rund 90 000 in den guten Zeiten auf 30 000. Der Experte Bohlhalter geht davon aus, dass zuerst 34 000 Beschäftigte der Strukturkrise zum Opfer fielen, dann 25 000 dem Technologiewandel in der zweiten Phase.
Die Kehrtwende leitete Nicolas G. Hayek ein: Er setzte auf eine konsequente Reorganisation des Produktionssystems durch Zentralisierung der Uhrwerkfertigung bei einer einzigen Firma, der ETA, sowie auf die Lancierung der Swatch. Die war nicht nur technologisch revolutionär, sondern auch – bisher nie da gewesen – ein fröhliches und preisgünstiges Lifestyle-Produkt. Dazu kam, auch von anderen Marktteilnehmern eingeleitet, generell die erfolgreiche Umpositionierung der Uhr vom Instrument zum Luxusobjekt.
«Made in Switzerland» blieb so der Massstab für die gute Uhr – auch wenn weiterhin Krisen das Geschäft ins Wanken brachten. Als Folge der Finanzkrise von 2008 fielen die Exporte von Schweizer Uhren 2009 um 22,3 Prozent. Doch die steigende Nachfrage aus Asien liess die Exportkurven rasch wieder stiegen. Rund zehn Jahre später, 2020, versetzte die Covid-Krise mit einem Exportrückgang von 21,7 Prozent 40 000 von insgesamt rund 50 000 Beschäftigten in Kurzarbeit – so gesehen wurde die Krise aber auch staatlich bravourös abgefedert. Kaum war sie vorbei, befeuerte der angestaute Nachholbedarf das Uhrengeschäft wie selten zuvor und sorgte bei den Uhrenpatrons für Champagnerlaune.
Weniger Uhren, mehr Umsatz – aber zu welchem Preis?
Da muten die rund 3 Prozent Exportrückgang, die letztes Jahr verzeichnet wurden und die Branche derzeit zum Teil in Angst und Schrecken versetzen, geradezu moderat an. Allerdings ist die Zahl ein Durchschnittswert, einzelne Marken und insbesondere die Zulieferindustrie wurden weit heftiger getroffen. Und für das laufende Jahr ist eine nachhaltige Erholung nicht wirklich in Sicht.
Kann man aus der Geschichte etwas lernen? Schwierig, sagen die Experten. Aber man kann versuchen, kommende Probleme zu antizipieren. Dieses zum Beispiel: Letztes Jahr wurden rund 15,3 Millionen Armbanduhren im Wert von 24,8 Milliarden Franken exportiert. Vor zwanzig Jahren waren es viel mehr Uhren (24,9 Millionen) für viel weniger Geld (11,1 Milliarden Franken). Geht es so weiter?
«Der Wert der Uhrenexporte kann nicht einfach unbegrenzt steigen», meint Pierre-Yves Donzé. Die Frage sei, ob der Trend erstens andauern werde und zweitens irgendwann in eine strukturelle Krise münde.
Dann müsste man wieder eine Lösung finden. So, wie man es schon immer tat.
Die wichtigsten Krisen im Überblick
- 1870er Jahre: Schock von Philadelphia
Grund: Amerikanische Massenproduktion übertrifft Schweizer Uhren in Effizienz, Qualität und Preis.
Folge: Starker Exportrückgang.
Reaktion: Übernahme der amerikanischen Produktionsmethoden, massive Industrialisierung. - 1921: Wirtschaftskrise
Grund: Wechselkursschwankungen, Inflation und schwierige Umstellung auf zivile Produktion nach dem Krieg.
Folge: Exporteinbruch um 49 Prozent, Massenarbeitslosigkeit in der Branche.
Reaktion: Staatliche Finanzhilfe. - 1927–1933: Grosse Depression
Grund: Schutzzölle im Ausland, Weltwirtschaftskrise.
Folge: Uhren werden im Ausland montiert, Schweizer Arbeitsplätze werden vernichtet.
Reaktion: Einführung des Uhrenkartells zur Regulierung der Branche. - 1975–1984: «Quarzkrise»
Ursache: Produktivitätsschub in Japan und Durchbruch der Quarzuhr.
Folge: Produktionsrückgang bei mechanischen Uhren von 51,3 auf 8,7 Millionen Stück.
Reaktion: Restrukturierung, Einführung der Swatch, Umpositionierung der Uhr zum Lifestyle- und Luxusobjekt. - 2008: Finanzkrise
Ursache: Globale Wirtschaftskrise.
Folge: Exporteinbruch um 22,3 Prozent im Jahr 2009.
Reaktion: Konzentration auf den Markt China als Wachstumsmotor. - 2020: Corona-Krise
Ursache: Pandemiebedingte Wirtschaftsflaute, Lockdowns.
Folge: Exporteinbruch um 21,7 Prozent.
Reaktion: Kurzarbeit für rund 40 000 Beschäftigte, rasche Erholung durch Nachholbedarf.