Russlands Angriffskrieg und Chinas Aggressionen heizen die Aufrüstung an. Die Schweizer Rüstungsexporte sind jedoch 2023 im Vergleich zum Höchststand des Vorjahrs deutlich geschrumpft. Die Ausfuhren nach Europa haben allerdings zugenommen.
Die Friedensdividende ist weg. Das gilt nicht nur für die Schweiz, wo das Bundesparlament die jährlichen Armeeausgaben bis spätestens 2035 von 5 Milliarden auf etwa 10 Milliarden Franken erhöhen will – auf 1 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandprodukt, BIP). Die Nato hat sogar einen Zielwert von 2 Prozent des BIP. Und manche Europäer befürchten angesichts von Russlands Krieg und dem Schwinden der US-Verlässlichkeit, dass dies nicht genug ist. Die Rüstungsausgaben Russlands dürften heuer laut dem Friedensforschungsinstitut in Stockholm über 7 Prozent des BIP betragen und gut einen Drittel der gesamten Regierungsausgaben ausmachen.
Gemäss dem US-Verteidigungsministerium erreichen dieses Jahr wohl 18 der 31 Nato-Mitgliedländer die 2-Prozent-Marke; 2014 waren es erst drei. Allein 2023 seien die Rüstungsausgaben der Mitgliedländer teuerungsbereinigt um 11 Prozent gewachsen. Die EU-Mitgliedländer gaben 2022 gemäss der Europäischen Verteidigungsagentur total rund 240 Milliarden Euro für die Verteidigung aus. Dieser Betrag dürfte laut der Verteidigungsagentur bis 2025 auf über 280 Milliarden Euro wachsen.
Globaler Boom für Produzenten
Was für die Steuerzahler dieser Welt Mehrkosten sind, ist für die Rüstungsindustrie ein Boom. Der weitaus grösste Waffenexporteur sind die USA, mit einem Anteil an den weltweiten Exporten von etwa 40 bis 45 Prozent. Im US-Fiskaljahr 2023 (Oktober 2022 bis Ende September 2023) wuchsen die US-Waffenexporte gegenüber dem Vorjahr um fast 56 Prozent, und schon das Vorjahr hatte einen prozentual ähnlich starken Anstieg gebracht.
In den am Dienstag präsentierten Daten zu den Schweizer Rüstungsexporten ist allerdings kein Boom ersichtlich. Absender der Daten ist das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das für Ausfuhrbewilligungen zuständig ist. Das Total der ausgewiesenen Ausfuhren schrumpfte 2023 im Vorjahresvergleich um 27 Prozent auf knapp 700 Millionen Franken. Zum Teil dürfte der Wegfall eines Sondereffekts aus dem Vorjahr diesen Rückgang erklären. 2022 war Katar wegen der Fussball-WM mit einem Einkaufsvolumen von über 200 Millionen Franken der weitaus grösste Abnehmer von Schweizer Rüstungsexporten. Dabei ging es vor allem um Flugabwehrsysteme des Schweizer Ablegers der deutschen Rheinmetall-Gruppe zum Schutz der Fussballstadien während der WM.
Doch der Wegfall des Katar-Effekts erklärt nicht alles. Selbst im Vergleich zu drei früheren Jahren (2019 bis 2021) sind die Schweizer Rüstungsexporte zurückgegangen (vgl. Grafik). Sind hier bereits erste Spuren des Reputationsverlusts sichtbar, den sich die Schweiz einhandelte mit der Weigerung, anderen europäischen Ländern die Weiterleitung von Schweizer Rüstungsgütern in die Ukraine zu erlauben? Das Seco sagt nein: Man höre aus der Industrie Besorgnis über eine verschlechterte Marktstellung der Schweiz, aber Entscheide ausländischer Regierungen, künftig auf Schweizer Rüstungsgüter zu verzichten, würden erst in einigen Jahren Spuren in den Exportstatistiken hinterlassen.
Im vergangenen Jahr gingen gut drei Viertel der Schweizer Rüstungsexporte in europäische Länder. Die Schweizer Ausfuhren nach Europa sind im Vorjahresvergleich um 20 Prozent gestiegen. Die klar wichtigsten Kunden waren Deutschland und Dänemark, die zusammen gut einen Drittel der globalen Schweizer Ausfuhren übernahmen. An dritter Stelle folgt die USA. Beim grössten Kunden Deutschland fiel vor allem der Verkauf von Munition und Munitionskomponenten für fast 100 Millionen Franken ins Gewicht. Auch gemessen an den globalen Exporten der Schweizer Rüstungsindustrie war Munition die klar bedeutendste Produktekategorie, gefolgt von Panzerfahrzeugen. Bei der Munition mag in diversen Fällen das Verbot der Weiterleitung in die Ukraine weniger stark ins Gewicht fallen.
Die Zunahme der Rüstungsexporte nach Europa ist ein Indiz dafür, dass die enge Auslegung der Schweizer Neutralitätspolitik in den Statistiken noch keine grossen Spuren hinterlässt. Ein weiteres Indiz: Das Volumen der erstmals erteilten Exportbewilligungen stieg 2023 im Vorjahresvergleich um knapp 11 Prozent auf gut 1 Milliarde Franken. Die Aussagekraft der Daten für ein Jahr ist allerdings beschränkt, weil einzelne Grossaufträge die Gesamtsumme stark beeinflussen können.
Das Seco wollte über den künftigen Trend der Schweizer Exporte nicht spekulieren. Es stellte allerdings die These in den Raum, dass die Schweizer Exporteure sich künftig möglicherweise vermehrt auf Produktekomponenten statt auf Endprodukte fokussieren, da die geltende Schweizer Praxis eine Weiterleitung von ausländischen Rüstungsgütern mit helvetischen Komponenten in die Ukraine zulasse. Eine solche Umorientierung der Schweizer Rüstungsindustrie wäre laut Seco aber nicht im Sinn der derzeitigen Schweizer Sicherheitspolitik.
Das Parlament ringt um eine Lösung des Problems. Eine parlamentarische Initiative verlangt, dass Länder mit ähnlichen Werten wie die Schweiz unter gewissen Bedingungen künftig helvetische Rüstungsgüter an Drittstaaten weitergeben könnten; dies soll auch für schon exportierte Güter gelten und damit für den Fall Ukraine anwendbar sein. Ein konkreter Gesetzesvorschlag durch die zuständige Parlamentskommission ist bis zum Sommer zu erwarten.
Ausnahme für Saudiarabien
Wie in den Vorjahren tauchen in der Kundenliste der Schweizer Rüstungsindustrie für 2023 auch manche Länder auf, die alles andere als Musterdemokratien sind. Aus dieser Ländergruppe stach 2023 vor allem Saudiarabien heraus, als Nummer 4 unter den Abnehmern von Schweizer Rüstungsexporten mit einem Volumen von rund 53 Millionen Franken. Der grösste Teil betrifft Munition für Fliegerabwehrsysteme.
Saudiarabien steht seit langem wegen Menschenrechtsverletzungen international in der Kritik. Der Bund bewilligt laut eigenen Angaben seit längerem keine Exporte mehr nach Saudiarabien – mit Ausnahme von Ersatzteilen und Munition zu früher gelieferten Gütern. Solche Ausnahmen sind mit dem Vertrauensschutz begründet: Abnehmer von Schweizer Rüstungsgüter sollen damit rechnen können, später Zugang zu Ersatzteilen und Munition zu haben.
Im wirtschaftlichen Gesamtkontext fallen die Rüstungsexporte wenig ins Gewicht. Sie machten 2023 laut Bundesangaben nur knapp 0,2 Prozent der gesamten Schweizer Güterausfuhren aus, was leicht unter dem Mittel der letzten zwanzig Jahre liegt. Gemäss den Daten des Stockholmer Friedensforschungsinstituts lag die Schweiz in der Fünfjahresperiode von 2018 bis 2022 auf Rang 15 der Rüstungsexportländer; 2023 dürfte die Schweizer weiter hinten liegen. Gemessen an den gesamten Güterausfuhren war die Schweiz 2022 auf Platz 21.