Genug Strom im Winter zu haben, ist die grosse Herausforderung für die Klimaneutralität im Jahr 2050. Hierzu brauche es gigantische Stromspeicher – oder neue Kernkraftwerke, sagt der Autor Andreas Züttel.
Es ist ein brisantes Resultat: Wenn die Schweiz 2050 klimaneutral sein will, ist der Bau von sechs bis acht Kernkraftwerken die günstigste Alternative. So steht es in einer Studie eines Teams um den an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) forschenden Andreas Züttel.
Um die Arbeit entbrannte vergangene Woche eine Kontroverse. Die Zukunft entstehe nicht durch das Aufblasen der Gegenwart, warf Nick Beglinger, der frühere Präsident von Swisscleantech, Andreas Züttel auf Linkedin vor.
Der FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen erwiderte auf der Plattform, Züttel habe recht: Er habe die gigantische physikalische Grössenordnung der Herausforderung erfasst. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse wiederum hebt auf seiner Website das Resultat der vergleichsweise günstigen AKW hervor.
Berechnung für den Worst Case
Wie bei jeder Studie sind die Annahmen zentral: Züttel schaut sich an, was die vollständige Dekarbonisierung bei heutigen Preisen für vorhandene Technologien kosten würde. Dabei geht er von einer autarken Schweiz aus, die ihren Strom also vollständig selbst produziert. Die Produktion passt sich zudem dem Bedarf an. Gerechnet wird mit einer Verdoppelung des Stromverbrauchs gegenüber heute auf 113 Terawattstunden. Der Mehrbedarf beruht auf einer Elektrifizierung des Verkehrs und dem Einsatz von Wärmepumpen statt fossilen Heizungen.
Umstritten sind vor allem zwei Annahmen: Da ist zum einen die Autarkie. Züttel sagt im Gespräch, dass Grosswetterlagen oft den ganzen europäischen Kontinent beträfen. Wenn es also an einem Wintertag in der Schweiz knapp werde, gelte dies auch für die Nachbarländer. Für ihn ist es deshalb naiv, einfach darauf zu setzen, dass man Lücken mit Importen ausgleichen kann.
Strittig ist aber auch die Annahme der unflexiblen Nachfrage. Mit neuen Preismodellen liesse sich die Nachfrage besser mit dem Angebot in Einklang bringen, das mit Solar- und Windstrom stärker schwankt als früher. Dies würde die Kosten der Energiewende senken, räumt Züttel ein. Doch hierüber Annahmen zu machen, sei schwierig. Man kann seine Schätzungen deshalb auch als Worst-Case-Szenario für die Kosten einer vollständigen Dekarbonisierung betrachten.
Um die Dekarbonisierung zu schaffen, müsste man, erstens, die Staumauern um einen Viertel erhöhen, womit sich das Fassungsvermögen der Speicherkraftwerke auf 18 Terawattstunden verdoppeln würde. Zweitens rechnet Züttel mit einer Installation von Solarzellen auf Hausdächern und an Fassaden, die jährlich 24 Terawattstunden bringen würde.
Doch auch dann fehlen immer noch 50 Terawattstunden Strom, wenn die jetzigen Kernkraftwerke nicht mehr in Betrieb sind. Züttel schlägt deshalb sechs bis – je nach Reservehaltung – acht grosse Kraftwerkseinheiten vor, die permanent verfügbaren Strom liefern.
Dabei handelt es sich zum Beispiel um grosse Freiflächenanlagen für Photovoltaik. Der so produzierte Strom würde grösstenteils verbraucht, wenn er anfiele, beziehungsweise kurzfristig in Batterien für den Tag-Nacht-Ausgleich gespeichert. Die grosse Herausforderung bei Solarstrom ist jedoch der saisonale Ausgleich, weil im Mittelland drei Viertel im Sommerhalbjahr anfallen.
Laut Züttel müsste man deshalb zusätzlich 20 Terawattstunden Strom vom Sommer in den Winter verschieben. Mit dem überschüssigen Solarstrom könnte man im Sommer Wasserstoff herstellen, mit dem man im Winter Turbinen in einem Gaskraftwerk antreiben und so Strom produzieren würde.
Die dafür nötigen Elektrolyseure, Lagerstätten und Wasserstoffkraftwerke würden jedoch Unsummen verschlingen, weshalb dieses Szenario Investitionskosten von 563 Milliarden Franken nach sich zöge. Dies entspricht 70 Prozent der heutigen Wirtschaftsleistung. Man könnte den Wasserstoff zwar auch importieren, aber billiger wäre dies laut Züttel nicht.
Nun kann man davon ausgehen, dass die Wasserstofftechnologie billiger wird. Doch auch wenn die Kosten um drei Viertel fallen, kostet eine Megawattstunde Strom aus grünem Schweizer Wasserstoff noch 250 Franken, was rund dreimal so viel ist wie der Preis, der heute an der Börse für Strom bezahlt wird.
Würden stattdessen sechs Kernkraftwerke gebaut, müssten laut Studie nur 48 Milliarden Franken investiert werden. Hier sei Züttel viel zu optimistisch, sagen die Kritiker. Umgelegt auf eine Megawattstunde wären dies nämlich nur 80 Franken. Tatsächlich belaufen sich die Gestehungskosten für Strom aus neuen AKW laut einer Studie der Investmentbank Lazard auf 140 bis 220 Franken je Megawattstunde.
Züttel verweist auf Flüssigsalz-Brutreaktoren sowie einen Testreaktor in China, der auf Thorium basiert. Dessen Vorteil wäre, dass man als Brennmaterial radioaktive Abfälle herkömmlicher AKW nutzen könnte, wodurch gleich auch noch deren Radioaktivität stark abnähme. Das ist allerdings Zukunftsmusik und passt nicht zur Ausgangslage, dass die Studie sonst mit Kosten verfügbarer Technologien rechnet.
Selbst wenn man indes die Kosten von Kernreaktoren doppelt so hoch ansetzte, wäre diese Lösung immer noch günstiger als die Alternativen – mit Ausnahme eines Modells, das Photovoltaik mit vielen zusätzlichen Speicherseen kombinieren würde. Letzteres ist aber unrealistisch, da dies bedeuten würde, zusätzlich zur Erhöhung der Staumauern nochmals 13 Mega-Staudämme à la Grande-Dixence zu bauen.
Vergleichsweise günstig wäre schliesslich noch der Import von gewaltigen Mengen von Palmöl. Um die Schweiz damit vollständig zu dekarbonisieren, müssten allerdings Plantagen von der Grösse der halben Landesfläche zum Beispiel in der afrikanischen Savanne angelegt werden. Palmöl kann somit ein Element unter mehreren sein, etwa um Kerosin zu ersetzen.
Warnung vor der «Sonnenblumen-Wirtschaft»
Züttel sagt, dass drei Viertel der künftigen Energienachfrage problemlos durch erneuerbare Energien (Wasser, Solar, Wind, Biomasse) gedeckt werden könnten, zu ähnlichen Kosten wie heute. Die Herausforderung seien die restlichen 25 Prozent, die man in den Winter bringen müsse. Um diese Monate zu überbrücken, ohne auf riesige Importe angewiesen zu sein, braucht es saisonale Speicher. Und diese machen das System so teuer.
Dem Forscher wurde vorgeworfen, die Studie extra im Vorfeld der Abstimmung über das Stromgesetz vom 9. Juni platziert zu haben, um dagegen Stimmung zu machen. Dagegen verwahrt sich Züttel. Der Termin habe damit zu tun, dass das Paper eben erst zur Publikation in der Wissenschaftszeitschrift «Frontiers in Energy Research» akzeptiert worden sei.
Das Stromgesetz sieht der EPFL-Professor vielmehr als Schritt für den beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, die auch bei seinen Berechnungen eine wichtige Rolle spielen. Doch aus seiner Sicht wäre es fatal, das Speicherproblem zu ignorieren. Wer sich nicht darüber Gedanken mache, könnte sich 2050 in einer «Sonnenblumen-Wirtschaft» wiederfinden, in der sich das gesellschaftliche Leben nach der stark fluktuierenden Stromproduktion richten müsse – und nicht die Produktion nach dem Bedarf.
In diesem Fall drohten gewaltige Wohlfahrtsverluste. Stattdessen empfiehlt Züttel, ab sofort 3 Prozent der Wirtschaftsleistung in den Ausbau der Stromproduktion und der Speicherung zu investieren, damit man 2050 keine böse Überraschung erlebe.