Ein Mann möchte schlafen, drei Frauen haben keine Lust, ihre Lautstärke anzupassen. Statt ruhig werden sie handgreiflich. Die Geschichte einer Eskalation, bei der eigentlich nur noch erstaunt, dass sie nicht öfter passiert.
Am Abendhimmel über Malaysia kam es neulich zum Zusammenprall der Befindlichkeiten. In einem Air-Asia-Flug ab Kuala Lumpur eskalierte ein Streit zwischen mehreren Passagieren.
Das Kabinenpersonal konnte die Streitenden nur mühsam trennen, und bei der Landung im chinesischen Sichuan wartete bereits das Sicherheitspersonal. Dabei hatte alles mit einer einfachen Bitte begonnen.
«Sind Sie dumm?»
Nachdem die Maschine ihre Flughöhe erreicht hatte, wurde das Licht gedimmt – ein Zeichen dafür, dass nun Ruhe einkehren sollte in den Sitzreihen. Drei Frauen aber sprachen weiterhin sehr laut miteinander.
Schliesslich bat sie ein Mann, leiser zu sein. Sie lehnten ab und führten ihr Gespräch in der gleichen Lautstärke fort, worauf der Mann in aggressivem Ton gerufen haben soll: «Seien Sie ruhig! Sind Sie dumm? Ich will schlafen.» Darauf eskalierte die Situation. Alle Beteiligten schrien sich an, und in einem Video ist zu sehen, wie zwei der Frauen handgreiflich wurden.
Erst als das Kabinenpersonal eingegriffen habe und im Gang die Sicherheitslichter aufgeleuchtet hätten, sei Ruhe eingekehrt. So erzählte es eine weitere Passagierin später der PR-Agentur Viral Press. Sie sass in der gleichen Maschine und filmte die Szene. Air Asia bestätigte den Vorfall gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press.
Zeitalter der Empfindlichkeiten
Die Eskalation über Malaysia erzählt die Geschichte zweier entgegengesetzter Befindlichkeiten und eines grossen Verlusts. Auf der einen Seite ertragen Teile der Gesellschaft immer weniger. Ein weinendes Kleinkind? Störend. Schmatzen am Nebentisch? Eine Zumutung. Vom lauten Kaugummikauen des Sitznachbarn im Bus fängt man besser gar nicht erst an. Hohe Geräuschempfindlichkeit hat heute einen Namen und eine psychologische Rechtfertigung: Misophonie.
Durch Home-Office, geräuschdämmende Kopfhörer oder weniger soziale Aktivitäten – sprich weniger Zeit, die man in Gesellschaft anderer, manchmal Fremder, verbringt – dürfte sich die Empfindlichkeit gesteigert haben.
So gibt es also jene, die die Anwesenheit anderer Menschen so stark wahrnehmen, dass sie sie als beinahe unerträglich empfinden. Ihnen diametral entgegen stehen jene Leute, die schlicht nicht zu realisieren scheinen, dass es neben ihnen und ihren Bedürfnissen überhaupt noch andere Menschen gibt.
Ein grosser Verlust
Gesellschaftsfähig zu werden, bedeutete einst zu lernen, dass man sich in verschiedenen Räumen auch unterschiedlich zu benehmen hat. Gerade dann, wenn man diese Räume mit anderen teilt. Wer auf dem heimischen Sofa gerne die Füsse hochlegte, wusste auch, dass er Gleiches im Zug nicht tun sollte. Wer im Wartezimmer Musik hörte, tat dies mit Kopfhörern. Und wer flog, führte seine Gespräche in gemässigter Lautstärke – im Wissen darum, dass der Raum klein und die Anzahl Menschen darin gross ist.
Man nennt dieses Verhalten, dessen man heute verlustig zu gehen droht, Rücksichtnahme. Sie ist ein Grundpfeiler des Anstands und basiert auf dem Bewusstsein, nicht alleine auf der Welt zu sein. Und auf dem Willen, sich in Gesellschaft so zu verhalten, dass man andere so wenig wie möglich beeinträchtigt.
Erst dieser Wille macht ein respektvolles Miteinander möglich. Bloss: Wer nur noch sich selber und die eigenen Bedürfnisse wahrnimmt, dürfte an ein Miteinander kaum mehr einen Gedanken verschwenden. Wird eine Person daran erinnert, dass es auch noch andere Menschen gibt, ist sie selten peinlich berührt. Stattdessen fühlen sich viele in ihrer Freiheit beschnitten – man bitte nur einmal im vollen Zug das Gegenüber, sein Telefonat nicht mittels Lautsprecher zu führen. Die Reaktion reicht dann von Verständnislosigkeit über Wut bis zum verbalen Gegenangriff.
Erstaunlich an den Szenen in der Maschine von Air Asia ist darum vielleicht nur, dass man solche Geschichten nicht öfter hört. Vielleicht noch nicht.