Der Schweizer Klaus Huber verstand sich als politisch engagierter Komponist und als Christ. Auch Brüche in seinem privaten Leben spiegeln sich auf vielfältige Weise in seiner Musik wider. An diesem Samstag wäre Huber hundert Jahre alt geworden.
1969 ist die Welt im Fieber. Auch im aufstrebenden Kurort Lenzerheide im Kanton Graubünden laufen die Fernseher heiss. Das Raumschiff Apollo 11 der Amerikaner ist erfolgreich gestartet. Dreitausend Tonnen werden in 66 Sekunden von null auf tausend Kilometer in der Stunde beschleunigt. Neil Armstrong ist nur noch drei Tage von seinem berühmten kleinen Menschheitsschritt auf den Mond entfernt – und in der protestantischen Kirche Lenzerheide findet ein Konzert mit neuer Musik statt. Mit Willy Burkhard und Anton Webern sind zwei Leitsterne Klaus Hubers vertreten, er selbst steuert eine Auftragskomposition zum Thema Mondlandung bei. Das Programmblatt ist mit einer denkwürdigen Regieanweisung versehen: «Man bittet, anstelle des Beifalls, nach jedem Werk sich von den Sitzen zu erheben.»
Nie wieder sollte Klaus Huber so viele Rezensionen bekommen wie nach der Uraufführung von «Ascensus» am 18. Juli 1969. «Ich reagierte mit Unglauben und dachte an eine Manipulation à la Hollywood», sagte er im Rückblick. Schliesslich zielte Huber mit dem Trio für Flöte, Violoncello und Klavier auf die «Hybris», als die Amerikaner sich anschickten, auf den Mond zu fliegen. Zivilisationskritik und Antiamerikanismus sind dem Werk eingeschrieben, wie sie Huber auch in der Dichtung Ernesto Cardenals antreffen sollte. «Selig sind die Armen, denn sie werden den Mond besitzen», heisst es 1973 in Cardenals «Oráculo sobre Managua».
Huber sprach von «Ascensus» als «Gelegenheitsarbeit» – und unterwarf sie doch gleichzeitig seinem stets hohen Anspruch an die kompositorische Dichte. Ruhe und Statik prägen den ersten Teil, in dem laut Huber Kompositionsmittel des «Irrationalen» wirkten. Anders im zweiten Teil: Dort reflektiert Huber den «Mond als seelisches Prinzip» und bedient sich dabei einer dezidiert rationalen Organisation der Töne. Das Ergebnis ist feinstoffliche, komplexe Musik, die Interpreten wie Publikum viel abverlangt.
Die Kunst und das Leben
Hubers Richtschnur war Luigi Nono. Eine glaubwürdige Musik verlange nach einer aufgeklärten Kompositionstechnik, gleichzeitig könne es kein aufgeklärtes Komponieren geben ohne die Verankerung in einer verantwortungsvollen Gesinnung, die über das blosse Musikmachen hinausgehe, lautete sein an Nono geschultes Credo. Breitenwirkung, wie sie etwa Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen oder auch deren einstiges Feindbild Hans Werner Henze erzielten, blieb Huber indes versagt. Während sich die Platzhirsche in Donaueschingen und Darmstadt schlugen, gab Huber Geigenunterricht am Konservatorium Zürich und komponierte bis 1959 im Stillen.
Es entsteht eine meditativ geprägte Musik, aus der Mystik von Mittelalter und Barock genährt, serielle Strukturen mit reinen Intervallen unterlaufend. Exemplarisch ist diese randständige Position in der Kammersinfonie «Oratio Mechtildis» (1956/57) nachvollziehbar. Dort gestattet sich Huber durch Vergrösserung gesteigerte Oktaven und setzt sich mit dieser Musik über die damals herrschende Skepsis gegenüber vokaler Emotionalität hinweg.
Einsam, ja «beschissen» sei in den 1950er Jahren sein Ort am Rand gewesen, klagte er. Die Tragik seines Vaters, des Komponisten Walter Simon Huber, der von hohem Ehrgeiz beflügelt, aber kaum aufgeführt wurde, drückt sich damals in sein eigenes Spiegelbild. Resonanz von aussen «tat mir ausserordentlich gut», bekennt er. Immerhin wird Huber 1959 am Weltmusikfest in Rom mit dem ersten Preis für die Kammerkantate «Des Engels Anredung an die Seele» ausgezeichnet. Und das inmitten einer Lebenskrise, in der er das Komponieren und die Legitimation von künstlerischer Produktion überhaupt infrage stellt: Vermag es Kunst, «Schuld in etwas anderes, Höheres zu verwandeln?», so fragt er.
Die Zweifel kommen nicht von ungefähr. Flora Huber-Würgler, Hubers erste Frau, sprang mit den beiden Söhnen an der Hand aus dem Fenster. Sie starb, die Söhne überlebten. Der Sturz in die Tiefe zerriss den Vorhang, hinter dem sich Huber beim Komponieren verstecken konnte. Der Schrei wuchs zur Obsession und sollte sich als transformierter Schmerz in Hubers Musik entladen, oft umgeformt zum instrumentalen Schrei. Fortan versteht Huber Musik als «Fürsprache für alle die, deren Stimme nicht gehört wird, deren Sprache verstummt».
Diese Setzung beginnt mit dem Golgatha-Stück «Tenebrae» (1966/67) und überspannt fast vierzig Jahre in seinem Schaffen, bis hin zur Kammerkantate «Die Seele muss vom Reittier steigen». Dazwischen mündet die lange Strecke der Selbstgewinnung in sein Vermächtnis als politisch engagierter Komponist und Christ: In dem Oratorium «Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet . . .» (1975–1983) stellt sich Huber Schlüsselworten aus dem Kommunistischen Manifest und verankert sein Bekenntniswerk im nicaraguanischen Befreiungskampf. Doch dem Verdacht platter Ideologie setzt er höchste Komplexität entgegen. Er schichtet Tempi und verschiedene Sprachen übereinander, gerade das Nicht-verstanden-Werden ist hier Programm – wie in den «inhumanen, hybriden Arbeitssituationen unserer industrialisierten Gesellschaft», so Huber.
Die Auseinandersetzung mit der Welt ist ein zentraler Treiber in Hubers Werk, das Private drängte nach Bewältigung in der künstlerischen Transformation. Im Laufe meiner Forschungen zu Leben und Werk wurde mir diese Verbindung überdeutlich. Doch noch immer wirft ein Gesetz seine Schatten, das Bewunderer des Musikwissenschafters Carl Dahlhaus bis heute hochhalten: Demnach sei das Werk vom Leben zu trennen. Biografisches Schreiben wird verdächtigt, unwissenschaftlich zu sein. Dabei kann gerade die strikte Trennung zwischen dem ästhetischen Gegenstand der Betrachtung und dem dahinterstehenden Subjekt des Urhebers ebenjene Heroen-Geschichtsschreibung befördern, von der sich die Wissenschaft eigentlich verabschieden wollte.
Musik als Brücke
Bei Klaus Huber kommt man indes nicht umhin, den biografischen Rahmen immer mitzudenken. Auch, um etwa die Unterstützungsleistungen seiner drei Ehefrauen gebührend darzustellen. Flora Würgler war vor der Heirat mit Huber Kindergärtnerin und arbeitete in einem Hort. Sie zerbrach an ihrer manisch-depressiven Erkrankung. Die Flötistin Susanne Bitter übernahm 1960 zuerst die Mutterrolle für die beiden Söhne, mit Klaus Huber hatte sie anschliessend drei eigene Kinder. Als aktive Musikerin und Interpretin war sie somit weitgehend aus dem Spiel, ihre Mitarbeit an seinem Schaffen hielt dagegen an. Davon zeugen etwa Eintragungen in der Flötenstimme von «Alveare vernat» (1965), Anmerkungen in der Reinschrift der Partitur «Beati pauperes I» (1979) und eine Tabelle für spezielle Flötengriffe bei «. . . plainte . . . I» (1990/93) für Altflöte.
«Natürlich läuft man bei dieser Art zu leben Gefahr, überfordert zu werden», erinnerte sich Susanne Huber-Bitter. «Damals war ich für einen intensiv schöpferischen Gatten, zwei Schuljungen und drei winzig kleine Kinder da.» Erst mit der Trennung begann sie ihre Freiheit als ausübende Musikerin zurückzufordern. So spielte sie ab 1986 im Ensemble Neue Horizonte Bern. Im Archiv von Schweizer Radio zeugen achtzig Aufnahmen von ihrem Schaffen. Auch Musik von Younghi Pagh-Paan spielte sie, diese wiederum widmete ihr zum 60. Geburtstag die überarbeitete Fassung ihres Stücks «Rast in einem alten Kloster». Die Musik wurde zu einer Brücke zwischen Klaus, Susanne und Younghi und verband die drei – über persönliche Verletzungen hinweg.
Pagh-Paan war zunächst Kompositionsschülerin Klaus Hubers, 1976 wurde sie seine Lebenspartnerin. Als Komponistin hat sie Geschichte geschrieben: Sie war die erste Frau, die für die Donaueschinger Musiktage ein Orchesterwerk schreiben konnte («Sori», 1980), und die erste im deutschsprachigen Raum, die eine Professur für Komposition antrat, an der Hochschule für Künste Bremen im Jahr 1994. Pagh-Paan verweist ihrerseits auf biografische Vorbilder für ihren Werdegang, auf «Frauenpersönlichkeiten», die sich trotz der «Unterdrückung durch die konfuzianische Männergesellschaft mit ganzer Hingabe schöpferischer Arbeit» widmeten: etwa Schamaninnen und Schriftstellerinnen, die das koreanische Alphabet ins Volk trugen.
Mit Younghi Pagh-Paan an der Seite öffnete sich für Huber ein bislang unbekannter Echoraum: Sie lebte für ihre Musik, blieb kinderlos und bedeutete auch Konkurrenz. Für Hubers Werk verantwortete sie über Jahre die sogenannte Spartierung; das bedeutet, sie fügte die auf unzähligen Blättern verstreuten Stimmen und Einzelteile zu einer Partitur. An Hubers «Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet . . .» habe sie, so erzählte sie, «ein Jahr meiner Zeit gegeben».
Ihr Kompositionsauftrag für Donaueschingen kratzte wiederum an Hubers Selbstverständnis: eben noch Studentin, jetzt Partnerin, hatte sie ihn, gemessen an der öffentlichen Anerkennung, überholt. Doch erst mit der Heirat im Jahr 1999 sei sie von der Gesellschaft respektiert worden, als «asiatische Frau» eines «geachteten Mannes». Im Pass war damals nur der Doppelname Huber-Bahk erlaubt. Das machte sie als Komponistin mit dem Künstlernamen Pagh-Paan administrativ unsichtbar. In der Altersresidenz, wo sie heute lebt, wurde sie während eines Recherchebesuchs von einer Pflegerin mit «Frau Huber» angesprochen. Wer sie wirklich sei, so Younghi Pagh-Paan, «bleibt mein Geheimnis».
Ein schwieriger Mäzen
Unterstützung erfuhr Klaus Huber auch durch Paul Sacher. Er trug als Mäzen und Arbeitgeber ab 1959 massgeblich zu dem «Stäubchen von Licht» bei, das auf Hubers Randständigkeit fiel. Die Paul-Sacher-Stiftung fördert in der Regel sehr diskret, Geldflüsse werden nicht kommuniziert. Spuren davon finden sich jedoch im Briefwechsel zwischen Sacher und Huber. So war für dessen Vorlass eine lebenslange Zahlung von 15 000 Franken pro Jahr im Gespräch; dokumentiert ist auch die Absage eines Darlehens für Hubers Haus im umbrischen Panicale.
Noch deutlich verschwiegener wurden lange Zeit die Kontakte behandelt, die Paul Sacher während der 1930er Jahre nach Nazideutschland pflegte. Er hatte offensichtlich Teil an jener Wirklichkeit, die man Huber im Elternhaus und während seiner Schulzeit vorenthielt. «Das Wesentliche» sei damals vertuscht worden, sagte Huber, von den Konzentrationslagern habe er erst nach dem Krieg erfahren. Sacher hingegen war über das «Dritte Reich» gut informiert und erhoffte sich dank seinen Verbindungen sogar Karrieremöglichkeiten als Dirigent. Auch mit dem Frontisten Franz Riedweg, der zum ranghöchsten Schweizer in der Waffen-SS aufstieg, ist ein Kontakt bis 1940 dokumentiert.
Ob Klaus Huber je etwas von derartigen Verflechtungen erfahren hat, ist ungewiss. Womöglich hätte er sie mit einem hellsichtigen Satz wie diesem kommentiert: «Der Horizont von Kunstmusik schrumpft immer dann, wenn der humane Zukunftshorizont enger wird. Das heisst, Musik als Kunst kann, Selbstbelügung ausgenommen, ohne das Prinzip Hoffnung nicht auskommen.»
Corinne Holtz ist Musikerin, Publizistin und promovierte Musikwissenschafterin. Jüngst erschien im Schwabe-Verlag ihre Biografie «Welt im Werk. Klaus Huber (1924–2017)».