Die Stadt Zürich will Werbung im öffentlichen Raum verbieten. Wie es dazu kam – und was ein Werber den «alternativen Konsumverächtern» antwortet.
Auf seinem Natel mit den grossen, schwarzen Tasten startet Christian Hänggi die Stoppuhr. Seit 20 Jahren kämpft der 45-Jährige gegen kommerzielle Werbung im öffentlichen Raum. In diesem Kampf ist die Uhr eine wichtige Waffe: Um zu erklären, was ihn antreibt, steht Hänggi am Zürcher Central vor einem digitalen Werbebildschirm und misst, wie lange jede Anzeige zu sehen ist.
Mit ihrem verträumten Lächeln präsentiert die südafrikanische Sängerin Tyla einen Jupe von H&M. Er kostet 49 Franken 95. Am Central drücken sich die Menschen aneinander vorbei, ein Tram klingelt Passanten aus dem Weg: Bald beginnt der Feierabendverkehr. Aber Hänggi bleibt geduldig.
Als Tyla verschwindet und eine Kampagne der Organisation Save the Children auf dem Schirm erscheint, stoppt Hänggi die Zeit. «Sehen Sie?», fragt er und zeigt auf den Bildschirm seines Telefons. Da steht: 13,5 Sekunden.
Laut städtischer Betriebsvorschrift müsse jede Werbung genau 15 Sekunden angezeigt werden. So aber, mit verkürzter Anzeigedauer, könne der Schirm in der gleichen Zeit mehr Werbung schalten. Für Hänggi passt diese Abweichung ins Bild: «Die Werbebranche verdient ihr Geld mit unserer Aufmerksamkeit. Und die Stadt kontrolliert nicht einmal, ob ihre Regeln eingehalten werden.»
Deshalb ist Christian Hänggi mit seinem Verein, der IG Plakat Raum Gesellschaft, selbst aktiv geworden. Seit 2006 hat die Organisation alle möglichen Informationen über das Plakatgewerbe gesammelt. Hänggi und seine Mitstreiter haben gemessen, wie lange Anzeigen sichtbar sind, wie schnell sich die beleuchteten Werbesäulen drehen, wie viele Menschen ein Plakat sehen.
Mit den Resultaten hat sich Hänggi wieder und wieder an Stadtparlamentarierinnen und Stadträte aller Couleur gewandt, um sie von seinem Ziel zu überzeugen: einer werbefreien Stadt Zürich.
Und jetzt, nach 20 Jahren Kleinarbeit, haben sich seine Bemühungen ausbezahlt: Vergangene Woche hat das Zürcher Stadtparlament eine Motion der Alternativen Liste (AL) angenommen, die eine deutliche Reduktion der Werbeflächen im öffentlichen Raum vorsieht. Die linke Mehrheit argumentierte, Werbung führe zu «Überkonsum» und das sei schlecht für das Klima.
Ein Linker wird zum erfolgreichen Werber
Der Entscheid des Zürcher Parlaments hat für Aufregung gesorgt – besonders in der Werbebranche, die in der Stadt einen hohen Stellenwert hat. 5500 Personen sind in Werbung und Marktforschung tätig.
Einer von ihnen ist Frank Bodin, 62. Er ist einer der führenden Kreativköpfe des Landes. Jahrelang war er CEO und Creative Director von Grossagenturen in der Schweiz und im Ausland. Mit seinen Werbekampagnen hat er unzählige Branchenpreise gewonnen.
Er sei gern bereit, etwas über diesen «Verbotswahnsinn» zu sagen, antwortet Bodin auf eine Anfrage der NZZ. Wenig später treffen wir ihn in seinem Atelier im Zürcher Seefeld, wo er eine «Boutique für Branding und kreatives Marketing» betreibt. Im Erdgeschoss eines Backsteingebäudes, in dem einst eine Spenglerei untergebracht war, hat er sich ein Büro eingerichtet, das auch ein hippes Industrie-Loft sein könnte: hohe Räume, Designermöbel und ein Parkettboden, der gezeichnet ist von Jahrzehnten handwerklicher Arbeit.
Er sei etwas zerstreut, sagt Bodin bei dem Treffen, habe wenig geschlafen. Ideen für eine Werbekampagne gegen das Zürcher Werbeverbot hätten ihn wachgehalten.
Den Entscheid des Stadtparlaments hält Bodin für ein fatales Zeichen. «Die Stimmung in Zürich ist zunehmend wirtschaftsfeindlich. Das führt dazu, dass viele Unternehmen sich überlegen, mittelfristig die Stadt zu verlassen», sagt er. Vielleicht fehlten der Stadt dann irgendwann die Einnahmen, welche heute so üppig sprudelten.
Das Werbeverbot im Überblick
olc. · Mit 58 zu 57 Stimmen nahm der Zürcher Gemeinderat am 19. März eine Motion der Alternativen Liste an, die eine starke Einschränkung der Werbemöglichkeiten im öffentlichen Raum vorsieht. Der Entwurf der AL sah vor, dass künftig nur noch Werbung für kulturelle Veranstaltungen, unkommerzielle Angebote oder politische Anliegen erlaubt gewesen wäre. Dies ging der SP aber zu weit. Sie will es dem Stadtrat überlassen, die genauen Formalitäten auszuarbeiten. Digitale Werbescreens sollen ganz verboten werden. Dank der Zustimmung der SP wurde die Motion schliesslich überwiesen. Der Stadtrat hat zwei Jahre Zeit, eine Vorlage auszuarbeiten.
Frank Bodin stand als junger Mann politisch links. Er konnte sich nicht vorstellen, dereinst als Werber Karriere zu machen. Er verstehe, warum manche Leute konsumkritisch seien. Aber die Werbegegner machten es sich zu einfach mit ihrem Bild des unmündigen Bürgers, der von den bösen, manipulativen Werbern geschützt werden müsse. «Die Leute können trotz Werbung sehr gut entscheiden, was sie kaufen wollen und was nicht.»
Solange Produkte legal erhältlich seien, müssten sie beworben werden können, findet Bodin. «Ich habe null Verständnis, wenn man in freiheitliche Rechte eingreift.» Natürlich gehe es bei Werbung auch um Verführung. Aber in erster Linie um Information. Die Unternehmen müssten ja irgendwie ihre Produkte bekanntmachen, so funktioniere nun einmal unser Wirtschaftssystem.
Das Perverseste am Entscheid des Parlaments sei, dass sich die Politiker zunächst vom Verbot ausnehmen wollten. «Gerade sie, die ja die phantasieloseste und übelste Werbung machen. Die den Unternehmen Manipulation vorwerfen, während sie mit ihren Plakaten die Bürger dazu bringen wollen, sie zu wählen.»
Der öffentliche Raum und der Kommerz
Frank Bodin ist vom konsumkritischen Linken zum liberalen Werber geworden. Bei Christian Hänggi, der kein Porträtfoto von sich in der Zeitung sehen möchte, war es genau umgekehrt. Er war Mitte der nuller Jahre Texter und Berater in einer Branding-Agentur und wurde danach zum Kämpfer für das Werbeverbot.
In der Agentur sei es ihm nach wenigen Jahren zu langweilig geworden, sagt er heute. Aussenwerbung hat er erstmals in Toronto bewusst wahrgenommen, 2002, entlang jener Autobahn, die schon die Journalistin Naomi Klein von ihrem Schreibtisch aus sehen konnte, als sie das Vorwort ihres Buchs «No Logo» verfasste. Seine Lizenziatsarbeit schrieb er denn auch über Aussenwerbung, eine Dissertation über die Rolle von Werbung in unseren Lebenswelten folgte.
Ein paar Jahre später kündigte er seinen Job in der Agentur, ging zurück an die Universität und schrieb eine zweite Doktorarbeit, diesmal über die Musik in Thomas Pynchons Literatur. Die Werbung blieb aber ein zentrales Thema in seinem Leben. Bis heute.
Mit einer Einschränkung der Wirtschafts- oder Meinungsfreiheit hat das geplante Werbeverbot aus Hänggis Sicht nichts zu tun – im Gegenteil. «Wer der Öffentlichkeit etwas mitteilen möchte, muss dafür Geld an private Unternehmen zahlen. Das ist eine Privatisierung des öffentlichen Raums – und dagegen kämpfe ich.»
Hänggi ist es gleichgültig, ob der WWF eine Anzeige zum Schutz bedrohter Arten schaltet, eine Fluggesellschaft Billigreisen bewirbt oder eine Krankenversicherung neue Kunden sucht. Er unterscheide nicht zwischen «guter» und «böser» Werbung, sagt er. Das Prinzip dahinter sei nämlich immer dasselbe: «die ungefragte Vereinnahmung unseres Geistes für den eigenen Profit».
Er sagt: «Sprayen und andere Formen der öffentlichen Mitteilung sind dagegen illegal. Die freie Meinungsäusserung gilt nur für die, die sie sich leisten können.» Dieses Ungleichgewicht – wie er sagt – zu korrigieren, das ist Hänggis Mission.
Tradition seit dem «Swiss Style» der Fünfziger
Ganz anders der Werber Frank Bodin: Schon als Kind hätten ihn Leuchtreklamen fasziniert, sagt er. Werbung bedeutet für ihn Urbanität. «Stellen Sie sich den New Yorker Times Square ohne Leuchtreklame vor.» In der Werbung manifestiere sich die Wirtschaft. «Zum Glück haben wir sie.»
Als 30-Jähriger steigt Bodin in die Werbebranche ein – als Vater von Zwillingen habe er rasch Geld verdienen müssen. Damals bezeichnet er sich als «Industriepoet». Und legt eine steile Karriere hin. Ein weltweiter Erfolg wird sein Plakat, auf dem Grabkreuze in den Schriftzug «Tibet» übergehen. Es weist auf die Unterdrückung der dortigen Bevölkerung durch China hin. Noch heute liebt es Bodin, Plakate zu gestalten. «Es ist eines der schönsten Medien. Es zwingt dich zu absoluter Reduktion.» Seine Plakate skizziert er deshalb immer auf der Rückseite einer Visitenkarte.
Natürlich gebe es viel Werbung im öffentlichen Raum, die misslungen sei: unverständlich, langweilig, klischiert. Da hätten die Kritiker schon recht, sagt Bodin. Aber es gebe auch das Gegenteil: die grossartigen Ideen, die zum Nachdenken oder Lachen animierten.
Von den laufenden Kampagnen gefällt ihm zum Beispiel jene von Denner gut. Der Detailhändler grenzt sich darin von der deutschen Konkurrenz ab. Auf rotem Grund steht in weissen Lettern: «Rahm statt Sahne – mein Schweizer Discounter-Original.» Dazu das Bild einer Kaffeerahmflasche.
In der Schweiz, so Bodin, habe die Plakatkunst ausserdem auch historisch eine grosse Tradition.
In den 1950er Jahren gehören die Schweizer Gestalter zu den angesehensten der Welt. Die schmucklosen Schriften von Walter Haettenschweiler, Adrian Frutiger und – allen voran – die Helvetica von Max Miedinger prangen weltweit auf Aushängen, Schildern und Plakaten. Die Schriften stehen sinnbildlich für einen sachlichen neuen Stil, den man bald nach seiner Herkunft benennt: «Swiss Style».
Daneben sind Schweizer Grafikdesigner auch bei der Gestaltung der Plakate äusserst einflussreich. Statt mit verschlungenen Verzierungen und endlosen Textblöcken arbeitet der Rapperswiler Josef Müller-Brockmann mit strengen geometrischen Kompositionen und setzt damit neue Massstäbe. Seine Entwürfe gelten bis heute als Referenz für gestalterisches Handwerk.
«Werbung ist wie Wasser», sagt der Werber
Im Vergleich zu Müller-Brockmanns aufgeräumten Arbeiten von damals sind die Plakate rund um den Zürcher Hauptbahnhof deutlich knalliger. Christian Hänggi braucht nicht lange zu suchen, um Beispiele für das zu finden, was ihn an der Werbung im öffentlichen Raum stört.
Doch es gibt auch Ausnahmen: Vor dem Tabakgeschäft am Löwenplatz steht eine Litfasssäule. Dort tunkt eine Plakateurin gerade ihren Pinsel in den Kleister. In der anderen Hand hält sie ein Plakat, das auf ein Konzert aufmerksam macht.
Solche Hinweise auf öffentliche Veranstaltungen finde sie wichtig, sagt die Frau. Aber auf alle andere Werbung könne sie gut und gern verzichten. Diese diene ohnehin nur «dem Kapitalismus» und beschleunige den Klimawandel. Vom Werbeverbot – das sie immerhin ihren Job kosten könnte – höre sie zwar zum ersten Mal, aber sie begrüsse es. Dann bedankt sie sich bei Christian Hänggi für sein Engagement.
Dieser weist mit der Hand zur Tramhaltestelle «Löwenplatz». Dort gleiten vier Plakate derselben Kampagne wie choreografiert über die Wand. «Diese Gleichförmigkeit, die ständige Repetition und die Kommunikation, die immer nur in eine Richtung geht, das hat doch etwas Autoritäres, etwas Faschistisches.»
Frank Bodins Vater hat den wirklichen Faschismus erlebt. Der in Deutschland aufgewachsene Jude war jahrelang auf der Flucht vor den Nazis, bis es ihm 1941 gelang, sich von Frankreich aus via Marokko nach Kuba abzusetzen. Dort baute er sich eine neue Existenz auf, nur um Jahre später von einem anderen totalitären Regime flüchten zu müssen: den Kommunisten. Die hätten Werbung verboten und durch Staatspropaganda ersetzt, sagt Bodin, mit Plakaten wie «Socialismo o Muerte». So ähnlich wie heute Nordkorea. «Werbung hat für mich deshalb auch mit Freiheit zu tun.»
Er ist ausserdem überzeugt: Mit dem Werbeverbot werden die Zürcher Linken ihre Ziele nicht erreichen. Er hat eine Botschaft «an die lieben, alternativen Konsumverächter»: «Werbung ist wie Wasser, sie sucht sich immer einen Weg.» Werde nicht mehr auf Plakaten geworben, fliesse halt noch mehr Geld an die digitalen Megakonzerne: Google, den Facebook-Mutterkonzern Meta oder Bytedance, den Betreiber von Tiktok. Schon heute gingen über 2 Milliarden Franken an ausländische Werbeplattformen.
Hohe Summen für die Staatskassen
Es ist ein Betrag, der seit Jahren zunimmt. Trotzdem wird auch im Inland weiterhin viel Geld in Werbung investiert. 2023 waren es 4,2 Milliarden Franken – davon flossen 480 Millionen in Aussenwerbung. Die Werbewirtschaft ist damit auch ein wichtiger Arbeitgeber, sie beschäftigt knapp 22 000 Personen. Zürich ist als Wirtschaftsmetropole ein besonders wichtiger Werbestandort.
Auch der öffentlichen Hand spült die Aussenwerbung viel Geld in die Kassen. Die Stadt und ihre Verkehrsbetriebe nehmen so pro Jahr rund 28 Millionen Franken ein. Mit dem Werbeverbot würde ein Grossteil dieser Einnahmen voraussichtlich wegfallen.
Hänggi sieht das so: Die 16 Millionen Franken, die die Stadt Zürich neben dem Geld für die VBZ mit Abgaben auf Werbungen kassiert, machten bloss o,15 Prozent des Budgets von gut 11 Milliarden aus. «Zürich kann es sich leisten, auf Werbung zu verzichten.» Zur Onlinewerbung sagt er: Die Branche habe es in der Hand, ihren Kunden mehr Inserate in Zeitungen und gedruckten Magazinen zu verkaufen.
Beide fürchten eine Abstimmung
Der Kampf um die Zürcher Werbeplakate ist also trotz einem Parlamentsbeschluss noch lange nicht zu Ende.
Bereits wenige Tage nach dem Entscheid wurde eine Petition gegen das Werbeverbot lanciert. Der Slogan: «Zürich soll leuchten». Ausserdem ist auch die Stadtregierung gegen das Verbot. Sie muss nun – gegen ihren Willen – eine Vorlage ausarbeiten, die definiert, wie das Verbot umgesetzt werden soll. Zwei Jahre hat sie dafür Zeit.
Sodann wird das Parlament über die Vorlage des Stadtrats entscheiden. Und gegen diesen Entscheid könnte schliesslich das Referendum ergriffen werden. Am Ende wird womöglich das Stimmvolk über das Werbeverbot im öffentlichen Raum befinden.
Davor fürchten sich Hänggi und Bodin gleichermassen, aber aus unterschiedlichen Gründen. Bodin glaubt, die Stadtbevölkerung könnte sich gegen Werbung im öffentlichen Raum aussprechen. «Wer macht sich schon für Werbung stark?» Hänggi sieht es umgekehrt: «Die Werbeindustrie hat Geld ohne Ende – und die Deutungshoheit im öffentlichen Raum. Gut möglich, dass sie die Sache noch einmal drehen.»
Beide sind sich zumindest darin einig, dass sie am Ende als Verlierer dastehen könnten.