Die kanadische Molekularbiologin Alina Chan glaubt, dass die Corona-Pandemie im Labor in Wuhan entstanden ist. Im Gespräch erklärt sie, warum.
Der Ton der Debatte um die Ursache der Corona-Pandemie hat sich in den letzten Wochen verändert. So wurde kürzlich bekannt, dass der deutsche Geheimdienst BND einen Laborunfall für sehr wahrscheinlich hält. Ein Sonderausschuss des US-Kongresses kam im vergangenen Dezember ebenfalls zu diesem Schluss. Die Molekularbiologin Alina Chan hat am Broad Institute in Boston gearbeitet und bereits sehr früh die Laborhypothese öffentlich vertreten. Zusammen mit dem Wissenschaftsjournalisten Matt Ridley hat sie ein Buch über den Ursprung der Pandemie geschrieben.
Alina Chan, Sie waren eine der ersten Wissenschafterinnen, die vermutet haben, dass Sars-CoV-2 aus dem Labor entwichen ist.
Tatsächlich taten dies zuerst chinesische Wissenschafter. Sie wiesen darauf hin, dass es in Wuhan ein Labor gibt, das auf Coronaviren spezialisiert ist. Im Januar 2020 waren viele Topvirologen im Westen beunruhigt darüber, ob das neue Coronavirus aus dem Wuhan-Labor entwichen sein könnte. Ich war dann eine der Ersten, die das im Westen öffentlich vertreten haben.
Warum vermuteten Sie, dass das Virus aus dem Labor stammte?
Was mich als Erstes stutzig gemacht hat: Sars-CoV-2 wurde schon im Dezember 2019 leicht von Mensch zu Mensch übertragen. Ich fragte mich, ob das Virus schon vor November 2019 monatelang unbemerkt in Tieren oder Menschen zirkuliert war und sich dabei an Menschen angepasst hatte. Oder war dies im Labor durch Experimente mit einem Vorläufervirus passiert? Ich habe daher in einer Veröffentlichung im Mai 2020 geschrieben, dass sowohl ein natürlicher Ursprung als auch ein Laborunfall als Auslöser der Pandemie infrage kommen.
Was haben Sie daraufhin untersucht?
Aus alten Veröffentlichungen erfuhr ich, dass Wissenschafter des Wuhan Institute of Virology (WIV) lange vor Pandemiebeginn in einer Höhle in der chinesischen Provinz Yunnan, sowie im nahen Laos, Tausende Proben von Fledermäusen gesammelt und dann in ihrem Labor in Wuhan manche davon analysiert haben. Aus der Höhle sowie aus Laos stammt auch je ein Virus, das genetisch gesehen die grösste Ähnlichkeit zum Pandemievirus aufwies.
Was weiss man noch?
Meine Sorge wuchs, als sich herausstellte, dass viele der Arbeiten mit den Höhlen-Viren nicht in einem Hochsicherheitslabor der Stufe 4, sondern nur bei Sicherheitsstufe 2 durchgeführt wurden. Passieren hier Unfälle, sind Mitarbeiter nicht umfangreich geschützt. Dieses Wissen hat für mich die Wahrscheinlichkeit eines Laborunfalls als Pandemieauslöser erhöht.
Was hat Sie schliesslich davon überzeugt?
Mitte 2021 wurde ein Forschungsantrag aus dem Jahr 2018 bekannt. Dieser zeigte, dass die Forscher des WIV zusammen mit dem Team von Ralph Baric in North Carolina in Sars-ähnliche Viren eine sogenannte Furin-Spaltstelle einbauen wollten. Dieses Element erleichtert es Viren, in menschliche Zellen einzudringen. Die Wissenschafter schreiben, dass sie nur Viren mit einem geringen Risiko für Menschen verwenden wollen.
Aber der Forschungsantrag wurde nie genehmigt.
Das stimmt. Aber das WIV hatte viel Geld. Niemand weiss, ob sie die Forschung ohne amerikanisches Geld weitergeführt haben. Für mich stellt sich daher die Frage, warum ausgerechnet in Wuhan Ende 2019 ein neues Coronavirus mit einer Furin-Spaltstelle auftauchte, also ein Virus mit Merkmalen wie im 2018 präsentierten Vorhaben der Forscher. Ich glaube, selbst vorsichtige Ermittler müssen zu dem Schluss kommen, dass ein Laborunfall wahrscheinlicher ist als eine Zoonose.
Müsste man es nicht in der genetischen Information des Virus sehen können, wenn eine Furin-Spaltstelle im Labor eingefügt wurde?
Ralph Baric hatte eine Methode entwickelt, mit der man Erbgutabschnitte von Coronaviren zusammennähen kann, ohne dass man es danach sieht. Mit dieser Methode haben auch die Wissenschafter in Wuhan an Sars-ähnlichen Viren gearbeitet.
Lassen Sie uns Ihre Argumente kurz zusammenfassen: Die WIV-Forscher haben an verschiedenen Orten Proben von Fledermäusen gesammelt. Das wissen wir sicher. Und an manchen davon haben sie im Labor geforscht. Aber wir wissen nicht, welche Sars-Viren sie im Labor hatten und was sie damit alles gemacht haben. Korrekt?
Ja, das stimmt. Wir haben nur gewisse Indizien – und seit 2021 auch kaum neue. Aber wir haben sehr viel Misstrauen gegenüber den WIV-Forschern. Sie sagen uns noch immer nicht, welche Viren sie haben, zudem haben sie eine Datenbank mit Virenproben im September 2019 aus dem Netz gelöscht. Sie haben zu Pandemiebeginn auch nicht klar auf die Ähnlichkeiten zwischen einer ihrer Virenproben und Sars-CoV-2 hingewiesen und der Probe sogar eine neue Bezeichnung gegeben, um den Zusammenhang mit ihren früheren Studien zu verschleiern.
Wie erklären Sie es sich, dass die ersten Covid-Fälle alle rund um den Huanan-Markt gefunden wurden oder in Menschen, die dort unterwegs waren? Wenn das Virus zuerst im Labor ausgebrochen ist, müsste man doch die ersten Fälle überall über die Stadt verstreut finden – dort, wo die Mitarbeiter des Labors wohnen, ihre Freizeit verbringen, ihre Kinder zur Schule gehen.
Das ist richtig. Aber es gibt drei gute Gründe, warum wir das nicht sehen. Erstens wurden anfangs nur Menschen auf Covid-19 getestet, die in Verbindung mit dem Markt standen oder in der Nähe wohnten. Fälle, die nichts mit dem Markt zu tun haben, hätte man also gar nicht finden können. Zweitens haben wir gar keine Daten aus der tatsächlichen Anfangsphase.
Warum das?
Viele der frühsten Proben wurden ausserdem Anfang Januar 2020 zerstört, auf Anweisung der chinesischen Regierung. Die verfügbaren Daten zeigen wahrscheinlich die Lage mehrere Wochen nach Beginn des Ausbruchs. Bis dahin würde man erwarten, dass die meisten Fälle dort sind, wo am meisten Menschen leben. Der Markt liegt in einem der am dichtesten bewohnten Gebiete der Stadt.
Und der dritte Grund?
Laut geleakten amerikanischen Geheimdienstberichten sind im Herbst 2019 drei Labormitarbeiter krank geworden, die in Wuhan an Coronaviren gearbeitet haben. Sie hatten Erkältungssymptome. Wir können aber nicht sicher sein, dass sie Covid-19 hatten, denn ihre Proben und medizinischen Akten wurden nie herausgegeben. Die chinesischen Forscher behaupten, sie hätten alle Mitarbeiter getestet und niemand habe Antikörper gegen Sars-CoV-2 gehabt.
Aber Sie vertrauen diesen Informationen nicht.
Die Menschen können uns nicht die Wahrheit sagen, weil sie in China sind. Sie stehen unter riesigem Druck. Der einzige Weg, wie wir Beweise bekommen könnten, wäre ein chinesischer Whistleblower.
Wie erklären Sie es sich, dass die Mehrheit der Virologen noch immer eine Zoonose für wahrscheinlicher hält als einen Laborunfall?
Die Frage nach dem Ursprung des Virus lässt sich nicht allein anhand der wissenschaftlichen Daten beantworten. Es braucht geheimdienstliche Untersuchungen, Zeugenaussagen, geleakte E-Mails. Und solche Informationen nehmen viele Wissenschafter leider nicht ernst. Deswegen sind die Geheimdienste die besseren Leute, sich dazu eine Meinung zu bilden. FBI und CIA halten einen Laborunfall für leicht wahrscheinlicher als einen natürlichen Ursprung. Der deutsche Geheimdienst BND glaubt sogar mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 bis 95 Prozent an die Laborhypothese.
Wenn man jedoch auf die wissenschaftlichen Publikationen zum Ursprung der Pandemie schaut, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die grosse Mehrheit der Untersuchungen deutet auf einen natürlichen Ursprung hin.
Das stimmt. Aber da gibt es eine Verzerrung. Wissenschaftliche Publikationen, die die Laborhypothese stärken, werden selten veröffentlicht. Die Wissenschafter, die die Publikation bewerten, stempeln einen gleich als Verschwörungstheoretiker ab. Ich hatte selber oft Probleme, meine Ergebnisse in wissenschaftlichen Journalen zu publizieren.
Die Debatte um den Ursprung der Pandemie wird hitzig geführt, aber keine Seite hat wirklich Beweise oder auch nur neue Erkenntnisse. Warum überhaupt weiter diskutieren?
Es kann noch sehr lange dauern, bis wir eindeutige Beweise haben. Ich finde, wir sollten so handeln, als ob beide Hypothesen wahr sind. Und Massnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passieren kann. Aber bisher ist nichts passiert. Und die Forscher am Labor in Wuhan führen noch immer riskante Experimente an Viren durch, mit den gleichen laschen Sicherheitsvorkehrungen wie vorher.
Welche Massnahmen wünschen Sie sich?
Ich bin 2021 auf das Bulletin of the Atomic Scientists, eine Nonprofitorganisation, die sich mit Fragen der globalen Sicherheit beschäftigt, zugegangen. Wir haben zusammen mit vielen Virologen und anderen Experten eine Reihe von Empfehlungen ausgearbeitet. Riskante Gain-of-Function-Forschung sollte nur durchgeführt werden, wenn sie klar einen Gewinn bringt. Ausserdem braucht es internationale Protokolle, die genau klären, wie mit unbekannten und gefährlichen Viren gearbeitet werden darf – von der Probensammlung bis hin zu den Experimenten. Und diese Forschung soll lokal, national und international überwacht werden. Dazu braucht es mehr Geld speziell für Biosicherheit. Alle diese Massnahmen folgen eigentlich nur dem gesunden Menschenverstand.
Wollen Sie sich weiter für diese Themen einsetzen?
Ja, ich werde mich jetzt Vollzeit der Biosicherheit widmen. Ich dachte ja lange, dass das Feld sich von allein regulieren würde, ich war sehr optimistisch. Aber es ist nichts passiert. Ich möchte jetzt daran arbeiten, transparenter zu machen, wo auf der Welt eigentlich Forschung stattfindet, die das Risiko birgt, eine Pandemie auszulösen. Und ich möchte mit Menschen zusammenarbeiten, die neue Regelungen für Biosicherheit umsetzen können. Ich bin mittlerweile bekannt und gut vernetzt, ich bin zuversichtlich, dass ich in diesem Bereich etwas bewegen kann.
Sie sind tatsächlich bekannt und haben eine Meinung vertreten, die lange als extrem kontrovers galt. Haben Sie viel Hass abbekommen?
Ja. Manche haben versucht, meinen Arbeitgeber zu überzeugen, mich zu feuern. Und online habe ich natürlich viel Beschimpfungen und beängstigendes Zeug abbekommen. Aber ich habe einfach gemacht, was ich für verantwortungsvoll und notwendig halte. Mein Optimismus hat mir geholfen, mit den schwierigen Situationen umzugehen, der Glaube daran, dass es besser wird. Und dass die Wahrheit irgendwann ans Licht kommt.