Weil die Polizei sie nicht ernst genommen habe, schritten die Jungs selbst zur Tat. Nun wird gegen sie ermittelt.
Ein 35-Jähriger soll eine Minderjährige immer wieder belästigt haben, ihr Nacktfotos geschickt und sie zum Sex aufgefordert haben. Ein Freund der Minderjährigen schildert so den Beginn einer Geschichte, an deren Ende achtzehn oder neunzehn verhaftete Jugendliche aus dem Tessin stehen. So berichteten es mehrere Medien.
Die Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren stehen im Verdacht, potenzielle Pädophile über soziale Netzwerke angelockt zu haben – um sie dann in Selbstjustiz zu bestrafen. Angeblich, weil die Polizei eine Verhaftung versäumte.
Anfang Oktober nahm die Kantonspolizei Tessin die Jugendlichen fest. Die Details bleiben unklar. Die Ermittler wollen sich nicht zum laufenden Verfahren äussern.
Was man nun über die Geschichte weiss, weiss man von den Jugendlichen selbst. Im Mai hatte einer von ihnen auf der Plattform Twitch seine Sicht der Dinge geschildert. So berichtet es das Portal «Tio». Der Jugendliche berichtete, dass die eingangs erwähnte Belästigung seiner Bekannten ihn und seine Gruppe veranlasst habe, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
«Wir wissen, dass das, was wir tun, nicht legal ist»
Dazu habe sie ein russischer Neonazi inspiriert: Maxim Marzinkewitsch hatte in den 2010er Jahren in Moskau die Gruppe «Occupy Pedophilia» gegründet. Die Gruppe griff Pädophile an, vor allem aber Homosexuelle. Diese wolle er bestrafen und «heilen», erzählte Marzinkewitsch.
Ähnlich soll die Gruppe aus dem Tessin agiert haben. Der Jugendliche erzählte seine Geschichte laut «Tio» weiter: Er und seine Freunde hätten die Polizei auf den belästigenden 35-Jährigen hingewiesen. Die Polizei habe die Hinweise aber nicht ernst genommen.
Also setzten die Jugendlichen ihr eigenes Verständnis von Strafverfolgung um: Sie sollen die angelockten Männer verprügelt und gedemütigt haben. Laut RSI sollen die Jugendlichen die Männer geohrfeigt und getreten haben, sie gezwungen haben, sich auszuziehen, ihnen auf die Haut gekritzelt und ihnen den Schädel rasiert haben. Vereinzelt sollen die mutmasslich pädophilen Männer gezwungen worden sein, Geld zu bezahlen. Die Jugendlichen filmten demnach ihre Lynchjustiz und posteten sie im Internet.
Einer der Jugendlichen sagte dem Radiosender Gwendalyn: «Wir haben versucht, sie zu denunzieren, aber wir wurden nicht ernst genommen, wir haben die Chats sogar den Polizisten gezeigt . . .» Er fügte hinzu: «Wir wissen, dass das, was wir tun, nicht legal ist, aber was für uns zählt, sind die Idee und die Botschaft.»
In der Schweiz scheint diese Form der Gerechtigkeitsfindung neu zu sein. Aus dem Ausland ist sie schon länger bekannt. So wurde beispielsweise in Amerika Anfang der 2000er Jahre die Reality-Serie «To Catch a Predator» ausgestrahlt. Hier wurden Männer gezielt in Häuser gelockt mit der Aussicht, Sex mit Minderjährigen zu haben. Am vereinbarten Ort wurden sie dann von verdeckten Ermittlern festgenommen.
Beim Schweizer Fall vermutet Reto Medici, ehemaliger Jugendstaatsanwalt des Kantons Tessin, die Berichterstattung der italienischen Medien als Motiv der Jugendlichen. «Im italienischen Fernsehen wird täglich – oft nachvollziehbar – über die Versäumnisse der Behörden berichtet. Entsprechend ist der Drang, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, dort gross», sagte Medici den Tamedia-Zeitungen.
Ein 49-Jähriger wurde verurteilt
Die Jugendlichen aus dem Tessin sollen laut eigenen Angaben «etwa zehn» Männer angelockt haben. In anderen Berichten heisst es, es seien zwanzig gewesen. Den ersten Mann sollen sie im Mai dieses Jahres in einem Park am Bahnhof von Lugano gestellt haben. Dort hatten sie ein fingiertes Sextreffen mit einem 49-Jährigen arrangiert. Sie hatten dem Mann klargemacht, dass der Junge, den er treffen werde, erst 14 Jahre alt sei.
Im Park verprügelten die Jugendlichen den Mann und fügten ihm Prellungen sowie eine Kopfverletzung zu. Später dann wurde der Mann wegen versuchter sexueller Handlungen mit einem Kind und wiederholter Pornografie zu zehn Monaten Gefängnis bedingt verurteilt und erhielt einen Landesverweis von fünf Jahren.
Laut SRF wirft die Staatsanwaltschaft den Jugendlichen Körperverletzung, Nötigung, Raub, Freiheitsberaubung und Erpressung vor. Ermittelt wird aber nicht nur gegen die Jugendlichen, sondern auch gegen die Männer, die angelockt wurden.