Bei «Le Piano Symphonique» im KKL übt man sich krankheitsbedingt in der Kunst der kurzfristigen Improvisation. Der besondere Geist dieses Festivals vermittelt sich trotzdem, auch dank einer eindrucksvollen Hommage an Schostakowitsch.
Manchmal fasst eine feine Geste den Geist und die besondere Stimmung an einem Musikfestival trefflich zusammen. Als Martha Argerich beim letzten Konzert der Reihe «Le Piano Symphonique» am späten Samstagabend in Luzern auf die Bühne kommt, ist die Grande Dame des Klaviers scheinbar bloss eine unter vielen. Ganz bescheiden tritt die weltweit nahezu kultisch verehrte Pianistin auf, mischt sich unter die Musikerinnen und Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters, als wäre sie gar nicht da. Oder allenfalls zufällig mit von der Partie. Natürlich erkennt man sie trotzdem an dem charakteristischen grauen Haarschopf, und das Publikum im KKL bricht bei ihrem Erscheinen umgehend in Jubel aus, schon vor dem ersten Ton.
Die Begeisterung ist verständlich, denn bis zu diesem Augenblick hat Argerichs Auftritt als Solistin in Beethovens 1. Klavierkonzert infrage gestanden. Die 83-Jährige hatte sich nämlich kurz vor Beginn der Luzerner Festivalwoche eine Grippe zugezogen. Was aber tut man als Verantwortlicher, wenn der Weltstar, der dem ganzen Projekt als «Pianiste Associée» ein Gesicht gibt und ihm internationale Aufmerksamkeit garantiert, nur unter Vorbehalt zur Verfügung steht? Man improvisiert, und das noch ein bisschen mehr, als es bei diesem Festival seit dessen Gründung 2022 ohnehin üblich ist.
Ad hoc und nach Gusto
Dieses Offene und Unkonventionelle macht den Reiz von «Le Piano Symphonique» aus. Weil Martha Argerich sich schon seit vier Jahrzehnten keine Solo-Rezitale mehr zumuten will und nur noch gemeinsam mit anderen Musikern auftritt, muss man in Luzern – wie übrigens auch bei dem ähnlich konzipierten Argerich-Festival in Hamburg – programmatisch andere Wege gehen. Die Konzerte mit ihr haben deshalb «Akte», wie in der Oper: Den ersten bestreitet ein geschätzter Kollege – in diesem Jahr etwa Fazil Say oder Leif Ove Andsnes; im zweiten gibt sich Argerich dann selbst die Ehre, aber stets zusammen mit Partnern. Das starre Korsett des klassischen Klavierabends, der ein Erbe des Geniekults aus dem 19. Jahrhundert ist, wird dadurch in origineller Weise aufgebrochen.
Auch fixe Werkfolgen gibt es selten, oder das publizierte Programm wird ad hoc nach Gusto geändert. Diesmal muss krankheitsbedingt allerdings mit noch etwas heisserer Nadel gestrickt werden. Gleich Argerichs erster Auftritt zusammen mit Michail Pletnev und dessen Neufassung von Schuberts «Unvollendeter» für zwei Klaviere entfällt leider. Bei zwei weiteren Konzerten rund um Saint-Saëns’ «Karneval der Tiere» werden Anton und Daniel Gerzenberg, die Söhne von Argerichs langjähriger Duopartnerin Lilya Zilberstein, zu Rettern in der Not.
Am Donnerstag erscheint «La Martha» dann aber doch, sichtlich verschnupft, zu einem offenbar kurzfristig arrangierten Kammermusik-«Akt» mit der Geigerin Janine Jansen und dem Cellisten Mischa Maisky. Auf dem Papier versprach dieses Zusammentreffen von drei der besten Interpreten auf ihrem Instrument nicht weniger als eine Sensation – in der Praxis wiederholt das All-Star-Trio in Teilen freilich seinen Auftritt vom Januar 2024, mit Haydns «Zigeunertrio» als Hauptwerk. Der Rest, darunter die langsamen Sätze aus Mendelssohns d-Moll-Trio und Chopins später Cellosonate, wirkt fragmentarisch, wie eine lose Folge von Zugaben.
Was nicht in den Noten steht
Doch gestört hat sich daran vermutlich kaum jemand. Denn jeder Moment ist hier kostbar. Unerhört hell, in schwerelos-verspielter Heiterkeit löst sich Haydns Musik von den Saiten, schwebt gleichsam im Raum. Ähnlich beglückend und nuancenreich greifen die gesanglichen Linien bei Mendelssohn ineinander. Und im Zusammenspiel von Argerich und Maisky, der seinerseits länger mit einer Erkrankung zu kämpfen hatte und erst an diesem Abend auf die Bühne zurückkehrt, spürt man die über Jahrzehnte gewachsene Vertrautheit zwischen Künstlerfreunden. So tritt hier, trotz oder gerade wegen des unfertigen Programms, etwas in den Vordergrund, was nicht in den Noten steht: souveränes, uneitles Können, ein Lebensschatz an Erfahrungen und jenes Irrationale, das man behelfsweise Aura nennt.
Argerich ist eine gehörige Menge davon in den über siebzig Jahren ihrer einzigartigen Karriere zugewachsen. Dass dies nicht nur eine blumige Marketing-Metapher ist, zeigt das besagte Abschlusskonzert: Sie kann sich einfach nicht verstecken; wo sie auftritt, rückt sie sofort ins Zentrum des musikalischen Geschehens. Dabei möchte sie dies eigentlich partout vermeiden: Sie spielt Beethovens 1. Konzert bewusst als Prima inter Pares, nicht als tonangebender Star. Passend dazu kommt die Aufführung, wie um 1800 noch üblich, ohne einen Dirigenten aus. Stattdessen sucht Argerich in jedem Moment den Austausch mit dem Konzertmeister Gregory Ahss, der die Orchestereinsätze hier so virtuos vom ersten Pult aus koordiniert, als wäre diese historische Praxis immer noch gängig.
Kein Wunder: Man kennt sich gut – Ahss sitzt auch regelmässig am ersten Pult beim Lucerne Festival Orchestra. Mit dem LFO hat Argerich dasselbe Stück letztmals unter denkwürdigen Umständen während der Corona-Saison 2021 im KKL gespielt, sehr frei, stellenweise wie entrückt. Hier dagegen liegt der Fokus ganz auf der präzisen Interaktion und dem partnerschaftlichen Dialog mit jedem einzelnen Orchestermitglied. Rhythmus und Artikulation sind gegenüber 2021 deutlich geschärft, alles klingt frisch, jugendlich und leicht. Wenn es noch eines Belegs für den Ausnahmerang Argerichs bedürfte, dann ist es diese Frische, diese Wandlungsfähigkeit bei einem Stück, mit dem sie – es ist kaum zu glauben – schon 1949 ihr Konzertdebüt gegeben hat.
Ein Festival im Festival
Man kann sich unschwer ausmalen, welche Herausforderung es für Pianisten nachfolgender Generationen bedeutet, neben einer solchen Künstlerin am selben Festival aufzutreten. Bemerkenswert unbekümmert ging der erst zwanzig Jahre alte Yunchan Lim mit dem Erwartungsdruck um. Der Südkoreaner hat 2022 als bislang jüngster Preisträger den Van-Cliburn-Wettbewerb gewonnen und wird in Asien, auch dank Social Media, bereits als Superstar gehandelt. Dass man sich seinen Namen unbedingt merken sollte, unterstreicht er in Luzern mit einer technisch bestechenden, allerdings im Forte stählernen Wiedergabe des zweiten Rachmaninow-Konzerts; mehr noch aber mit einer ungleich feineren, stellenweise hochpoetischen Interpretation des selten integral gespielten «Jahreszeiten»-Zyklus von Tschaikowsky.
Neben Argerich bestehen kann ohne Frage auch Jewgeni Kissin. Sein zweiteiliges Schostakowitsch-Projekt war von vornherein als programmatisch unabhängiges Festival im Festival geplant und wartete mit Grössen wie dem Cellisten Gautier Capuçon, der Sopranistin Chen Reiss und der Geigenlegende Gidon Kremer auf. In einem Interview mit der NZZ hatte sich Kissin im Vorfeld leidenschaftlich zur Musik des heimlichen Dissidenten Schostakowitsch bekannt und für eine Sichtweise plädiert, die dezidiert die versteckten politischen Botschaften hinter den Noten in den Blick nimmt. Besonders eindrücklich gelingt dies mit dem bewegenden 2. Klaviertrio und dem ihm sinnfällig zur Seite gestellten Liederzyklus «Aus jüdischer Volkspoesie». In den zwei Stücken hat Schostakowitsch mutig Partei gegen den Antisemitismus in der Sowjetunion ergriffen.
Nicht weniger dringlich, bestechend klar und oft geradezu unerbittlich im Ton wirkt am zweiten Abend die Wiedergabe der drei grossen Duosonaten für Cello, für Violine und für Bratsche. Der frühen Cellosonate gestehen Kissin und Capuçon immerhin noch ein wenig brüchige Romantik zu. In der Violin- und der Bratschensonate, zwei kompromisslosen Spätwerken, wird es dagegen vollends finster.
Wie Kissin diese schwer zu vermittelnde Musik im Verbund mit Kremer und mit dem überragenden Bratscher Maxim Rysanov dennoch zum Sprechen bringt und ihr dabei ein mild-resignatives Leuchten verleiht – das bleibt lange im Ohr. Das Geheimnis dieser Künstler ist dasselbe wie bei Argerich: Sie sind in jedem Augenblick packend präsent, treten aber so selbstlos hinter die Musik zurück, als wären sie gar nicht da.