Zuerst verlor der Ski-Weltcup Rennen um Rennen, nun Fahrer um Fahrer – fand in Wengen eine Abfahrt zu viel statt? Eine Einordnung.
«Es ist Winter, was wollen wir noch mehr?», sagte der Sprecher der Skirennen von Adelboden am ersten Januarwochenende.
Es hatte geschneit im Berner Oberland, Marco Odermatt hatte den Riesenslalom gewonnen, die Rennen in Wengen standen bevor, eine Abfahrt, ein Super-G, eine Abfahrt, ein Slalom.
Es ist Winter. Aber was für ein Winter! «Shit happens», sagte Markus Waldner, der Renndirektor des Ski-Weltverbands FIS, am Freitag in Wengen an der Mannschaftsführersitzung, der allabendlichen Zusammenkunft von Trainern und Veranstaltern. «Shit happens», sagte Waldner auch am Samstagabend. Skirennsport sei ein harter Sport, «ein Hardcore-Sport».
In der Abfahrt vom Donnerstag hatte sich der Schweizer Marco Kohler bei einem Sturz das Kreuzband gerissen, im Super-G vom Freitag der Franzose Alexis Pinturault. Es sei schon wieder ein Fahrer verlorengegangen, sagte Waldner, als führe er eine Kompanie durch einen unbarmherzigen Marsch.
Tom Stauffer, der Cheftrainer der Schweizer Männer, sagte es am Samstagabend so: «Es ist meine Aufgabe, dass ich die gesund hinunterbringe, damit sie alle mit dem Bähnchen heimgehen, um am Montag nach Kitzbühel zu fahren.»
Traurige Nachricht aus Wengen 😢
Marco Kohler ist heute in der Abfahrt von Wengen gestürzt und hat sich dabei am rechten Knie verletzt.
Die bisherigen Untersuchungen haben einen Riss des vorderen Kreuzbandes, des inneren Meniskus, sowie eine Zerrung des Innenbandes ergeben. pic.twitter.com/CbXIJPj1uo— SwissSkiTeam (@swissskiteam) January 11, 2024
Kildes Trainer relativiert, Kildes Freundin pausiert
Am Samstag verlor die Weltcup-Kompanie einen weiteren Fahrer: Aleksander Kilde. Der Norweger war kurz vor dem Ziel ins Netz geflogen. Resultat: ausgerenkte Schulter, Schnittwunde an der Wade, Prellungen. Kilde und Pinturault gehören zu den Grossen des Skirennsports; bevor Odermatt zweimal den Gesamtweltcup für sich entschied (2022 und 2023), hatten sie die Gesamtwertung gewonnen.
Norwegens Trainer Michael Rottensteiner sagte, Kilde sei zwar angeschlagen gewesen, aber nach zwei Podestplätzen am Donnerstag und Freitag hätten sie entschieden, dass Kilde auch am Samstag an den Start gehe, «und dann fahren wir auf Sieg. Da waren wir uns alle einig. Wir sind alles erwachsene Leute.» Kilde stürzte. Shit happens. Rottensteiner sagte, die Kritik, die er gehört habe, unterstütze er «derzeit sicher nicht».
So redete also der Trainer eines Fahrers, der nicht mit dem Bähnchen heimgegangen, sondern mit dem Helikopter aus dem Zielraum geflogen worden war, gut verpackt an einer Seilwinde hängend. Am Sonntagmorgen postete Kilde schon Bilder von sich, im Spitalbett; neben ihm seine Freundin Mikaela Shiffrin, die weltbeste Skirennfahrerin – die an diesem Wochenende die Frauen-Rennen in Altenmarkt-Zauchensee ausgelassen hatte, bezeichnenderweise der Erholung zuliebe.
Die Kritik, die Rottensteiner nicht stützte, lautete so: Es seien zu viele Rennen gefahren worden in Wengen. Darin schwang mit: Und weil zu viele Rennen gefahren worden seien, habe sich Kilde verletzt.
Von Zermatt bis Wengen: Tränen hier, Meinungsverschiedenheiten da
Aber um zu verstehen, warum so viele Rennen gefahren worden waren, braucht es den Blick zurück, dahin, wo der Weltcup-Winter anfing, obwohl noch gar kein Winter war.
Etwa zum Gletscherriesenslalom der Männer in Sölden, der im ersten Lauf abgebrochen werden musste, wegen Wind und Wetter.
Und zu den total vier Gletscherabfahrten der Männer und Frauen in Zermatt und Cervinia, die alle abgesagt werden mussten, wegen Wind und Wetter; der OK-Präsident Franz Julen weinte vor laufender Kamera.
Und zu den Überseerennen der Männer in Beaver Creek, die allesamt abgesagt werden mussten, wegen Wind und Wetter, zwei Abfahrten und ein Super-G.
Bevor der Weltcup also Fahrer um Fahrer verlor, hatte er von Ende Oktober bis Anfang Dezember Speed-Rennen um Speed-Rennen verloren. Und die Fahrer, so sagte es Waldner dieser Tage wiederholt, seien zu ihm gerannt und hätten gefragt, wo die Rennen nachgeholt würden.
In Wengen, zum Beispiel, am Ort mit der längsten Abfahrtsstrecke der Welt vor dem beeindruckendsten Panorama der Welt. Was wollen wir noch mehr? Weniger? Der eine oder andere rannte plötzlich in Wengen durch den Zielraum und stellte infrage, dass die Rennen nachgeholt worden seien. Odermatt fand, mehr Rennen seien nicht immer besser, wobei ihm zugutegehalten werden muss, dass er schon im Dezember davor gewarnt hatte, die ausgefallenen Rennen irgendwo reinzuquetschen.
Odermatts Teamkollege Niels Hintermann wies auf die «brutale Belastung» hin, was insofern bemerkenswert ist, als dass er weniger beansprucht ist als Odermatt, weil er keine Riesenslaloms fährt. Stefan Rogentin hingegen, ein anderer Schweizer, sagte auf die Frage, ob er es am Limit finde, drei Speed-Rennen am Lauberhorn: «Nein, ich finde es immer lässig, hier Rennen zu fahren. Es ist ein strenges Programm, aber für etwas trainieren wir auch ein ganzes Jahr.»
Damit sie der Cheftrainer Stauffer gesund hinunterbringt. Oder auch für Geld. Weniger Rennen heisst auch weniger Preisgeld, was für Fahrer à la Kilde oder Odermatt weniger ausmacht als für Rogentin. Odermatt verbucht in dieser Saison schon Preisgeldeinnahmen von 400 000 Franken, Rogentin von 13 700.
Der FIS-Renndirektor Waldner sagt: «Jetzt haben andere auch einen Einfluss, und deswegen bastelt man so herum»
Aber diese Diskussionen über Sinn und Unsinn überdecken den Ursprung des Problems: Unklarheiten innerhalb der FIS. Ursprünglich standen dreizehn Männer-Abfahrten im Rennkalender 2023/24, Waldner nannte dieses Programm am Samstag «überladen» – und auf die Frage, warum denn eigentlich dreizehn Abfahrten eingeplant worden seien: «Da müssen Sie andere Herren fragen, in der oberen Etage. Es ist nicht mehr wie vor zwei Jahren, als ich allein den Kalender gemacht habe, das wissen alle. Jetzt haben andere auch einen Einfluss, und deswegen bastelt man so herum.»
In der oberen Etage sitzen der FIS-Präsident Johan Eliasch, der seit seiner Wahl 2021 umstritten ist und als Befürworter der nicht minder umstrittenen Gletscherrennen in Zermatt und Cervinia gilt. Und unter Eliasch in der oberen Etage: der FIS-Generalsekretär Michel Vion, den ein Cheftrainer am Samstag bloss schnippisch als «grossen FIS-Chef» bezeichnete. Vion war es gewesen, der im November vor den Männer-Abfahrten in Zermatt darauf hinwies, wie wichtig es sei, «wenigstens» ein Rennen durchzuführen. Rennen um Rennen fiel aus, Wengen sprang ein, und Waldner musste verteidigen, was er womöglich gar nicht hätte verteidigen wollen.
Er machte es auf seine Art: Waldner stellte klar, dass in dieser Saison keine weiteren Abfahrten nachgeholt würden – und wo im Kalender schon zwei Speed-Rennen aufgeführt seien, sollte es künftig kein drittes Speed-Rennen geben. Was Waldner für die kommenden Saisons auch schon so gut wie abschaffte: zwei Abfahrten, wie sie am nächsten Wochenende in Kitzbühel stattfinden; und wie sie in Wengen durchgeführt worden sind.
Mit dieser Ankündigung dürfte Waldner etwa Odermatt besänftigt haben, der schon Anfang Woche gesagt hatte, er finde es schade, wenn bei Klassikern wie Wengen und Kitzbühel zwei Rennen durchgeführt würden, so werde der Anlass entwertet. Waldner sagte am Samstag: «Es ist nicht gut, zwei Lauberhornsieger in einer Woche zu haben.»
Aber zumindest dieses Problem gab es in dieser Woche nicht: zwei Lauberhorn-Abfahrtssieger. Weil Odermatt beide Rennen gewann. Was dieser Rennfahrer nicht alles möglich macht.
Nun müsste Odermatt nur noch schaffen, dass künftig nicht erst Anfang Januar Winter ist. Aber bei so viel hausgemachtem Durcheinander (um nicht zu sagen: «shit») darf es nicht erstaunen, wenn es sich der Winter gut überlegt, ob er überhaupt noch kommt.