In einer gesichtslosen Zürcher Industriegegend findet ein lauter Abend unter dem Motto «Play and Pray» statt. Mitten drin: die früheren Fussballer Diego und Johan Vonlanthen.
Drinnen wird die Lautstärke hochgefahren, als müsste in einer Diskothek eingefeuert werden. Das Schlagzeug hämmert, die elektrische Gitarre durchtrennt die Luft, und der Gesang ist eindringlich. Als müsste etwas in die Körper gehämmert werden. Es ist Samstagabend in Dielsdorf. Die Comunidade Evangélica International da Zona Sul, eine Freikirche brasilianischer Herkunft, bittet zum Fussballabend.
«Play and pray». Spielen und beten.
Wie in einem Kino werden Bilder und Videos an die Wand projiziert. Der Raum ist abgedunkelt und das Podium hell erleuchtet. Hier wird angerichtet, volle Ladung, Lichteffekte. Es ist laut, fast ohne Pause. Zeitweise steht die Gemeinde auf und tanzt im Chor mit. «Ich glaube, ja, ich glaube», singen sie, «hab keine Angst, gib niemals auf». Oder: «Mein Gott war schon immer bei dir.»
Draussen der Kontrast. Industriegebiet Dielsdorf. Ein Schweizer Unternehmen baut ein «Hochleistungs-Datenzentrum für Cloud-Anbieter». Daneben breitet sich ein deutscher Autoriese aus, samt «Experience Center». Strassen, Kreuzungen, Schnellimbiss, Drive-in. Einen halbstündigen Spaziergang entfernt ist in Niederhasli der Campus des Grasshopper-Clubs. Am Himmel Flugzeuge im Steigflug.
Diego ist der Gast des Abends
Drinnen eine Abendshow mit viel Spiel, Religion und noch mehr Fussball – und am Ende ein Gebet. Die brasilianischen Fussball-Granden Claudio Taffarel und Paulo Sergio waren schon bei der Freikirche in Dielsdorf zu Besuch, jetzt ist Diego Ribas der Star des Abends, «der letzte Zehner», wie ihn die «Süddeutsche Zeitung» nannte.
Diego spielte in Europa für Porto, Werder Bremen, Juventus Turin (27-Millionen-Euro-Transfer 2009), Wolfsburg, Atlético Madrid und Fenerbahce. Vor einer Woche hatte er in Bremen in einem vollen Stadion ein Abschiedsspiel, in dem mit einer XXL-Puppe sein Tor des Jahres 2007 nachgestellt wurde. Damals schoss der Bremer Zauberer den Ball aus 63 Metern ins gegnerische Tor. Diego ist in Dielsdorf Nahrung für die Phantasie.
Als am Ende des langen und von erstaunlich vielen Frauen besuchten Abends gebetet wird, hebt er auf dem Podium seine Arme, flankiert von seiner Frau und dem Pastor. Im Scheinwerferlicht stehen zudem (frühere) Fussballer wie Johan Vonlanthen, heute Assistenztrainer im FC Zürich, oder die befreundeten Nzuzi Toko (GC, YF Juventus) und Mychell Chagas (Servette, GC, YF Juventus). Oder Joël Kiassumbua (Stade Nyonnais), der 2009 als Ersatzgoalie mit der Schweizer U-17-Auswahl in Nigeria Weltmeister geworden ist.
Der Goalie, der den Weg in die Gemeinde gefunden hat
Nicht nur Diego, auch Kiassumbua erzählt am Dielsdorfer Freikirchen-Abend, dass ihm der Glaube auf die Sprünge geholfen habe. Während seinen Tiefs habe er gesehen, «wer wirklich an meiner Seite ist», sagt er, der Familienkreis, der Mentaltrainer, dazu die «geistliche Unterstützung», die er «hier in der Gemeinde gefunden» habe. Dies, nachdem er vor dem Engagement lange ohne Klub und Perspektive gewesen war.
Alle sprechen über Fussball, aber auch über ihren Glauben. Vonlanthen hat darin Halt gefunden und immer wieder Aufsehen erregt. 2009 sah sich der FC Zürich zu einer öffentlichen Richtigstellung seines damaligen Spielers genötigt, weil das Gerücht kursierte, dass dieser aus religiösen Gründen am Samstag nicht mehr (Profi-)Fussball spielen dürfe: «Ich dementiere Aussagen, wonach ich zum jüdischen Glauben übergetreten sein soll. Einer evangelischen Freikirche bin ich ebenfalls nicht beigetreten.»
2011 verliess er trotz einem Millionenvertrag Salzburg in Richtung Kolumbien, dem Heimatland seiner Mutter. «Ich will nicht berühmt sein, habe andere Werte als früher», sagte Vonlanthen laut dem Magazin «Focus». Seine Frau soll ihn bei den Siebenten-Tages-Adventisten eingeführt haben.
Vonlanthen spricht über sein berühmtestes Länderspiel
Am Samstag sagt Vonlanthen wenig. Zum hundertsten Mal muss er darüber Auskunft geben, wie das war, als er an der Euro 2004 mit etwas mehr als 18 Jahren als damals jüngster EM-Torschütze für die Schweizer Auswahl gegen Frankreich ein Tor erzielte. Sein zweites Länderspiel von letztlich deren 40 ist heute noch das Berühmteste. Toko ist in Dielsdorf einer von den Protagonisten, die sich deutlich zu Wort melden: «Den grössten Sieg hat Jesus für mich errungen», sagt er über seine Glaubensfindung, die darin bestanden habe, «auch für den Gegner zu beten».
Der Abend bietet Fussball, Musik, Klamauk – und immer wieder den Bezug zur Religion. Am Ende werden Trikots verlost. Zu haben sind das Werder-Trikot mit der Nummer 10 von Diego und Leibchen von anderen Beteiligten mit der Aufschrift «Jesus saves».
Wie eine Lichtgestalt empfangen wird Diego, dessen Rufnamen im Fussball etwas Übergeordnetes anhaftet. Er ist der Star, der sich durchgesetzt und die Welt gesehen hat. Sein mit Bildern und Video untermalter Vortrag wird wie alles an diesem Abend simultan von Brasilianisch auf Schweizerdeutsch übersetzt.
Wie der Masseur die Wut Diegos besänftigte
Diego spricht von Kinderträumen, die er in die Realität umgesetzt habe. Von Widerständen, die er in Europa überwunden habe. Vom früheren Werder-Bremen-Coach Thomas Schaaf, der ihn zur Räson gebracht habe. Vom brasilianischen Klub Flamengo, bei dem er späte Erfolge feierte und seine Karriere ausklingen liess.
Nach einer Niederlage wollten Flamengo-Fans auf die Spieler los. Auf einem Video sind tumultartige Szenen zu sehen. Diego mit Personenschutz. Er sagt, dass er danach Wut in sich gespürt und im Zimmer geweint habe. Doch an diesem Abend habe ein inzwischen verstorbener Flamengo-Masseur zu ihm gesprochen, ihn besänftigt, ihm Demut gelehrt. Diego sagt das so, als sei der Masseur kein Abgesandter des Klubs, sondern von einer höheren Macht gewesen.