Eine Reise an die Ostsee führte unsere Autorin zwischen Sturmflut, Strandkörben und Sätzen von Thomas Mann zu einem unerhörten Echo aus der Vergangenheit.
Haben Sie schon einmal einen unbekannten Ort betreten, einen Wald, eine Bergwiese oder eine Stelle an einem Ufer, und plötzlich und unerwartet das Gefühl gehabt, zu Hause zu sein? Eine Heimkehr in die Fremde. Eine Erinnerung ohne Logik. Irrational und mysteriös. Manchmal steckt eine Art Secondhand-Heimweh dahinter. Es speist sich aus dem Erinnerungsreservoir der Eltern oder Grosseltern, die einst an diesem Ort lebten und immer wieder von ihm erzählten, bis er auch im Gedächtnis der nachfolgenden Generationen fest verankert war.
Meine familiären Wurzeln reichen nicht bis nach Norddeutschland, aber als ich das erste Mal in Travemünde an der Ostseeküste stand, überfiel mich genau jenes unerklärliche Wiedererkennen. Wellen, Wind und Austernfischer verübten gemeinschaftlich ein Attentat auf mein wehrloses Herz. Der diensthabende Himmelszeltverleiher hatte an diesem Tag einen besonders klaren, besonders blauen Baldachin über das Meer gespannt, und noch bevor ich Schuhe und Socken ausgezogen, die Hosenbeine hochgekrempelt und die Füsse in den weichen Sand gesteckt hatte, hallte ein Satz in meinem Kopf, wie ein Echo auf die Strandlandschaft, die mich umgab: «Damals lebte sein Herz.» Ein einziger Satz. Ich hatte ihn vor vielen Jahren zum ersten Mal gelesen und war sofort verwandt mit seinem Verfasser – Thomas Mann.
Sieben Jahre alt war der kleine Thomas, als er im Jahr 1882 erstmals mit seiner Familie Ferien in Travemünde machte und eine lebenslange Liebesbeziehung mit der Ostsee begann. Genau hundert Jahre später erlaubte mir eine freundliche Bibliothekarin, ein schmales Buch aus der Stadtbücherei auszuleihen, für das ich eigentlich noch ein wenig zu jung war – Thomas Manns Novelle «Tonio Kröger».
Alles begriff ich tatsächlich nicht, aber dass da einer, der aus dem Rahmen der Normen fällt, von Einsamkeit und Ausgeschlossensein erzählt, davon, wie weh es tut, unverstanden zu sein und keinen Platz in der Gesellschaft zu finden, das habe ich wiedererkannt. Tonio Krögers Geschichte war meine eigene. Jede Übereinstimmung markiert ein Eselsohr in meiner Seele.
Das Meer als Trostspender
Das überwältigende Gefühl von Fremdheit in meinem eigenen Leben, diese umwerfende Traurigkeit, die schreckliche Verzagtheit, das Glück des Lesens – all das ist für immer an dieses Buch und an die Landschaft der Ostsee geknüpft, denn Tonio, der irrende, verlassene, heimatlose Tonio, träumt vom Meer, dem grossen Trostspender. Und ich träumte mit.
Thomas Mann zeigte mir eine Welt jenseits der Zechen, Hochöfen und Kokereien des Ruhrgebiets und vererbte mir Seite um Seite seine Sehnsucht nach dem Meer. «Die Ostsee! Er lehnte den Kopf gegen den starken Salzwind, der frei und ohne Hindernis daherkam, die Ohren umhüllte und eine gedämpfte Betäubung hervorrief, in der die Erinnerungen an alles Böse, an Qual und Irrsal, an Wollen und Mühen träge und selig unterging.»
Sich an einen Ort wünschen, ohne je dort gewesen zu sein, wurde zu einer Liebe, die mich begleitete wie der eigene Schatten, und dann, längst erwachsen, spürte ich in Travemünde zum ersten Mal die Kraft der Ostsee. «Damals lebte sein Herz.» Meines auch. Hier am Strand kann ich den Horizont als lange ununterbrochene Linie erfahren. In der Stadt, umringt von Hochhäusern und Mauern, werde ich kurzsichtig. Die Ostsee weitet meinen Blick wieder, und ich erkenne, dass ein Ort ungestörter Fernsicht immer auch ein Symbol für Freiheit ist.
Für die Kaufleute der Hansestadt Lübeck aber war jene Stelle, an der die Trave in die Ostsee mündet, vor allem die Freiheit des Handels, ihr Zugang zum Meer. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Travemünde zum Seebad samt Kurhaus, Logierstätten, einem Musiktempel für Konzerte, hölzernen Pavillons und Strandkörben, jene «eigentümlich bergenden Sitzgehäuse», die Thomas Mann so liebte und in denen er sogar arbeiten konnte. «An diesem Ort gingen das Meer und die Musik in meinem Herzen eine ideelle, eine Gefühlsverbindung für immer ein», schwärmte er 1926 in seiner Rede «Lübeck als geistige Lebensform».
Er hat seinem Travemünde ein literarisches Denkmal gesetzt, ein so gewaltiges allerdings, dass die Wirklichkeit damit nur schwer mithalten kann. Eine asphaltierte Kurpromenade mit Boutiquen, Restaurants, Drogeriemärkten und Souvenirläden gab es in Thomas Manns Kindheitsparadies noch nicht.
Die Literatur wird vom Tourismus in Geiselhaft genommen
Der kleine, im Jahr 1539 erbaute Leuchtturm steht noch immer, doch das Leuchtfeuer blinkt heute vom Dach eines Hotelhochhauses. Gebaut allein zu dem Zweck, möglichst viele Menschen auf möglichst wenig Raum aufbewahren zu können, erhebt es sich als Ausrufungszeichen der Unkultur direkt am Ostseestrand. Würden Haare auf Architektur reagieren, hätten sie auch Thomas Mann beim Anblick dieses Betonturms zu Berge gestanden. Der Bau blieb ihm erspart, und so bemerkte er bei seinem letzten Besuch im Juni 1953 lediglich: «Es ist weit luxuriöser, mondäner geworden – ein Weltbad sozusagen. (. . .) Travemünde zu meiner Zeit – das war ein Idyll.»
Und heute, zu unserer Zeit? Da ruft der Imbissbudenbesitzer «Zweimal Pommes!» über die Promenade, Jugendliche schieben abends einige Strandkörbe kreisförmig zusammen und platzieren mittig ihre blubbernden Shisha-Pfeifen, und an Wochenenden feuern Techno-Fans vom gegenüberliegenden Priwall-Ufer musikalische Flammenwerfer ab. Das soll dann wohl die Demokratisierung des Strandbadglücks sein.
Kann man hier noch der tieferen Wahrheit von Manns Meeresliebe nahekommen? Vermutlich verschlechtert das Doppeljubiläum die Chancen darauf eher noch. 2024 stand im Zeichen des Romans «Der Zauberberg», der in Davos spielt und vor einhundert Jahren veröffentlicht wurde. 2025 darf der 150. Geburtstag des Schriftstellers gefeiert werden, und die Geschäftstüchtigsten werden Thomas Mann in Geiselhaft nehmen und aus seinen literarischen Grosstaten touristische Verkaufsargumente fabrizieren.
Welches Ziel gibt man seiner Sehnsucht also, um dem literaturtouristischen Burnout zu entgehen? Eine Überdosis Thomas Mann in Lübeck darf es dann wohl besser nicht sein, eher ein wenig Sanatoriumsflair in den Schweizer Bergen oder eine Reise an die litauische Ostseeküste, auf die Kurische Nehrung, deren riesige Sandgebirge es Thomas Mann so angetan hatten, dass er sich in Nidden (litauisch: Nida) ein Sommerhaus bauen liess.
Die Landschaft wird zum Symbol für ein Empfinden
Oder macht man es Tonio Kröger nach, der am Ende des Buches nur einen kurzen Abstecher nach Travemünde unternimmt und dann weiter nach Dänemark fährt? «Tonio Kröger hielt sich an irgend einem gestrafften Tau und blickte hinaus in all den unbändigen Uebermut. In ihm schwang sich ein Jauchzen auf (. . .). Ein Sang an das Meer, begeistert von Liebe, tönte in ihm. Sein Herz lebte . . .»
Tonios letzte Reise gibt tatsächlich die Antwort. Im Grunde ist es nämlich vollkommen egal, wo man der ewig wiederkehrenden Ostsee-Sehnsucht auf den Grund gehen möchte, denn kartografisch kann Thomas Manns Traumort gar nicht mehr genau erfasst werden. Nein, auch nicht in Travemünde, denn dort existieren längst zwei Landschaften, eine der Vergangenheit und eine der Gegenwart, die dicht übereinanderliegen wie zwei Lagen dünnen Pergaments. An manchen Stellen ist das Papier so durchscheinend, dass man durch das Jetzt ins Gestern blicken kann, in eine Geisterlandschaft, das Land in dem Thomas Mann «die lichtesten Zeiten» seiner Jugend verbrachte.
Doch all die Figuren, denen er die Liebe zur Ostsee eingepflanzt hatte, sprechen an keinem bestimmten Ort zu uns. Sie hocken in unseren Herzen, lassen salzige Winde darin wehen und versprechen, dass der uralte Rhythmus des Meeres immer währt. Die Landschaft, von der sie erzählen, ist längst zum Symbol für einen seelischen Zustand geworden, sie entspricht einer inneren Situation meiner frühen Jahre.
Ich trage Thomas Manns Travemünde in mir. Ich nehme es mit, wohin ich auch reise, und deshalb kann auch jeder Ort an der Ostsee oder sogar an irgendeinem anderen Meer, wenn er nur still genug ist, um Tagträume schützen zu können, mich spüren lassen, warum Tonio Kröger mir so wichtig wurde.
Das, was ganz am Anfang meiner eigenen Geschichte stand und meinem Leben eine Richtung gab, ist ein tiefes, grosses und warmes Gefühl, die Freude darüber, eine Heimat gefunden zu haben, eine Heimat in der Literatur. Ein schöneres Reisen als das in der Einbildungskraft, bei dem man zu Hause bleibt und Thomas Mann liest, kann es doch auch gar nicht geben. «Tonio Kröger stand in Wind und Brausen eingehüllt, versunken in dies ewige, schwer betäubende Getöse, das er so sehr liebte. Wandte er sich und ging fort, so schien es plötzlich ganz ruhig und warm um ihn her. Aber im Rücken wusste er sich das Meer; es rief, lockte und grüsste. Und er lächelte.»