Erstmals nimmt Christian Dussey Stellung zu den Vorwürfen aus den Kantonen und der Aufsicht. Für ihn ist der Totalumbau seines Diensts zwingend – und er macht klar, was er damit erreichen will.
Herr Dussey, womit sind Sie zurzeit mehr beschäftigt: Mit dem internen Krisenmanagement oder dem Nachrichtendienstgeschäft?
Der NDB befindet sich nicht in einer Krise, sondern in einer Transformationsphase. Parallel zu dieser Transformation gehen unsere Aktivitäten weiter. Die Aktualität pausiert nicht. Als Direktor muss ich dafür sorgen, dass die Transformation ihren Lauf nimmt, und gleichzeitig muss ich einen reibungslosen Betrieb des Diensts gewährleisten. Es ist schon in normalen Zeiten anspruchsvoll, einen Nachrichtendienst zu führen. Die Operationen sind komplex, es gibt strenge Kontrollen. Heute befinden wir uns zusätzlich in einem hybriden Krieg, und alles wird von einer internen Transformation überlagert. Wir sind also gleich dreifach gefordert – aber es gibt keine Alternative.
Die Mitarbeitenden kritisieren Ihre Manager-Sprache: Impact Center, agile Prozesse, Team of Teams . . .
. . . es geht nicht um die Begriffe, sondern was wir damit wollen. Wir wollen Wirkung erzeugen. Vorher arbeiteten wir extrem in Silos. Hier Beschaffung, dort Auswertung. Diese Silos haben unsere Schlagkraft geschwächt.
Trotzdem: Die Kritik kommt auch von der Aufsichtsbehörde, die in ihrem jüngsten Tätigkeitsbericht schreibt, es gebe «gravierende Mängel», insbesondere beim Personalwesen.
Diese Mängel, die Sie ansprechen, wurden anlässlich einer Überprüfung der Aufsichtsbehörde festgestellt, die von Juli bis Mitte November 2022 durchgeführt worden war. Im gleichen Bericht steht auch, dass der NDB für seine Personalstrategie die richtigen Ziele formuliert habe und sich diese auch im Transformationsziel reflektierten.
Spricht man mit Leuten aus dem Dienst, hört man, es herrsche Chaos, Verunsicherung, Wut. Es gibt viele Abgänge. Spüren Sie diese Stimmung?
Wir sind ein kleiner Dienst, deshalb kenne ich die Leute. Ein Gefühl von Druck und Unsicherheit nehme ich wahr. Wenn wir die Transformation nicht oder langsamer durchgeführt hätten, hätten wir ein wesentlich grösseres Risiko in Kauf genommen. Wir hatten keine Alternative zu dieser Transformation.
Aber das Tempo hat gewisse Leute überfordert.
Eine Transformation ist ein schwieriger Prozess. Als Direktor verstehe ich, dass es Unsicherheiten gibt. Die letzte grosse Reorganisation war vor vierzehn Jahren. Wir haben kommunikative Massnahmen ergriffen, um den Leuten die Gründe für die Transformation besser zu erklären. Auch haben wir Arbeitsabläufe vereinfacht und Teams nach Aufgaben zusammengelegt. Schliesslich fand die Personalbefragung der Bundesverwaltung statt, die alle drei Jahre durchgeführt wird. Die Befragung war ausgerechnet im Oktober 2023, als die Unsicherheit am grössten war, weil sich die Kader neu bewerben mussten. Das war erforderlich, weil sich die Stellenprofile derart grundlegend geändert haben, dass eine Neuausschreibung vorgeschrieben war.
Wie viele Leute haben den NDB seit Ihrem Amtsantritt vor zwei Jahren verlassen? Gibt es ein Muster bei diesen Abgängen?
Was die Fluktuation anbelangt, haben wir 2022 einen Peak erreicht. Seither werden die Abgänge wieder geringer. In Zahlen ausgedrückt: In normalen Zeiten beträgt die personelle Fluktuation rund 5 bis 6 Prozent. 2022 stieg sie auf 9 Prozent, letztes Jahr ist sie auf 8 Prozent gesunken. So soll es jetzt weitergehen, bis wir wieder auf dem normalen Wert sind.
Wissen Sie, weshalb die Leute gehen?
Mit jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin, die den NDB verlassen, führe ich ein Gespräch. Ich will wissen, was die Gründe sind für den Weggang. Einer der Gründe ist die begrenzte Möglichkeit von Home-Office. Andere Amtsstellen in der Bundesverwaltung können diesbezüglich grosszügige Lösungen anbieten. Aus Sicherheitsgründen können wir das nicht. Im Weiteren besteht durch die personelle Unterbesetzung, die im NDB herrscht, ein grosser Druck. Und nicht zuletzt werden andernorts bessere Löhne bezahlt, insbesondere im IT-Bereich. Und schliesslich gab es beim Bund in den vergangenen Jahren viele offene Stellen im Sicherheitsbereich.
Ihre Leute werden intern abgeworben?
Ja, das kann sein, aber diese Mobilität ist durchaus gewünscht. Ich sehe das als strategische Investition. Ich freue mich, wenn Mitarbeitende, die wir rekrutiert und ausgebildet haben, nun im Fedpol, im EDA, im Seco, im Staatssekretariat für Sicherheitspolitik oder in ähnlichen Behörden arbeiten. Gesamtheitlich wird es die Qualität der schweizerischen Sicherheitspolitik verbessern. Nehmen Sie mich als Beispiel: Ich habe immer in der Bundesverwaltung gearbeitet, aber ich musste viermal kündigen, um an den Ort zu gelangen, wo ich jetzt bin. Vielleicht befindet sich ja unter den Leuten, die uns in letzter Zeit verlassen haben, in zehn oder fünfzehn Jahren der neue Direktor – oder die neue Direktorin – des NDB.
Wir wissen von Leuten, die den NDB im Zorn verlassen haben. Besteht so nicht die Gefahr, dass sie nachrichtendienstliche Geheimnisse verraten?
Aus der Befragung unserer Mitarbeiter geht etwas anderes hervor. Wir stellen fest, dass sich das Personal gegenüber dem NDB verpflichtet fühlt und sich mit den Aufgaben identifiziert. Aber natürlich haben wir ein Risikomanagement und verfügen über interne Sicherheitsmechanismen. Und klar, wie alle anderen Nachrichtendienste ist auch der NDB ein mögliches Ziel für Spionage. Aber ich kann Ihnen versichern: Es gibt andere Ziele in der Schweiz, die ebenso interessant sind, denken Sie etwa an die Wirtschaft oder an die Forschung.
Kritik kommt von den Kantonen, die sagen: Der NDB ist vor allem mit sich selbst beschäftigt. Bald treffen Sie die Polizeikommandanten zu einer Aussprache . . .
. . . es ist keine Aussprache, es ist eine Einladung. Eigentlich war der Termin schon früher geplant. Aber der April war die einzige Möglichkeit.
Was sagen Sie den Kommandanten?
Ich werde Ihnen sagen, dass der Dienst funktioniert. Seit Anfang März arbeiten wir in der neuen Struktur. Die Umsetzung der neuen Prozesse schreitet voran, dazu entwickeln wir eine neue Unternehmenskultur. Dieser tiefgründige Umbau des NDB hat zu Problemen im Austausch mit anderen Ämtern geführt, auch mit den Kantonen. Aber das ist normal.
Welche Probleme sind aufgetreten?
Es ging ums Verständnis für die Transformation.
Die Kantone bemängeln zum Beispiel, dass die Ansprechpersonen fehlen, weil sie entweder weg sind oder zu beschäftigt – alles dauere länger als bisher.
Es war immer jemand für die Kantone da, aber vielleicht eine andere Person als früher. Die Einheiten sind neu aufgestellt, und die Personen sind allenfalls ausgewechselt worden. Jetzt steht die neue Struktur, und das neue Kader hat, zusammen mit seinen Teams, mit der Arbeit angefangen. Das bedeutet, dass wir nun auch die Zusammenarbeit mit den Kantonen verbessern können.
Was wollen Sie verbessern?
Seit meinem Amtsantritt will ich die Zusammenarbeit mit den Kantonen verstärken. Seit rund einem Jahr gibt es wöchentlich mit den Vertretern aller Kantone, die das technisch können, eine Videokonferenz: zum Lagebild und mit einem Update zur Transformation. Es kommt auch zum Austausch von konkreten Fällen aus den Kantonen und den daraus gezogenen Lehren. Sicherheit ist Teamarbeit. Der NDB kann das nicht allein.
Den Auftrag zur Transformation gab Ihnen Bundesrätin Viola Amherd vor zwei Jahren. Was war eigentlich das ursprüngliche Ziel dieses Totalumbaus?
Die gegenwärtige Situation macht die Transformation unabdingbar. Handlungsbedarf hat schon der ehemalige Leiter der Aufsichtsbehörde in seinem Tätigkeitsbericht 2021 festgestellt. Aufgrund der geopolitischen und sicherheitspolitischen Lage ist die Dringlichkeit seither stark gestiegen. Wir sind fünf Druckpunkten ausgesetzt. Erstens dem hybriden Krieg und der erhöhten Terrorgefahr. Zweitens haben sich wegen der geopolitisch fiebrigen Situation die Kontakte mit den Partnerdiensten intensiviert. Drittens sind die Bedürfnisse unserer Kunden – vom Bundesrat bis zu den Kantonen – gestiegen. Viertens haben wir es mit einem Generationenwechsel zu tun. Die jungen Mitarbeiter haben andere Bedürfnisse an den Arbeitgeber als diejenigen, die jetzt in Pension gehen. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass wir nicht das Wissen verlieren. Fünftens erleben wir einen exponentiellen technologischen Fortschritt.
Auch die «Gegner» profitieren von den neuen Technologien.
Vieles passiert gleichzeitig: Quanten-Computing, künstliche Intelligenz, synthetische Biologie, Nanotechnologie. Das alles kommt auf uns zu, ein Riesenhammer. Dazu hat sich die Datenmenge, die wir im Dienst zu bewältigen haben, vervielfacht. Als junger Analyst vor dreissig Jahren erhielt ich jeweils ein Mäppchen mit Papieren, die ich in einem Tag lesen konnte. Der gleiche Analyst hat es heute mit einer Datenmenge zu tun, die mit einem sprudelnden Hydranten verglichen werden kann.
Ist das noch zu bewältigen?
Die Geschwindigkeit hat sich erhöht, wir haben mehr Kunden. Früher belieferten wir nur den Generalstabschef, jetzt erhalten wir aus allen möglichen Ämtern und Dienststellen Anfragen. Zudem haben wir Konkurrenz: von den Medien, von den Think-Tanks. Aber auch die Gegner haben aufgerüstet und gehen raffinierter vor als früher.
Der Nachrichtendienst hat seine Exklusivität verloren.
Es ist wichtig, die zwei Aufträge des NDB zu verstehen. Unser erster Auftrag ist zu informieren, den Unsicherheitsgrad bei der Entscheidfindung zu verringern und einen Entscheidungsvorteil zu erarbeiten – etwa für den Bundesrat. Dazu sollen wir neue Erkenntnisse über ein Thema liefern und Entwicklungsvarianten präsentieren – beispielsweise über einen laufenden Krieg. Das ist unser Job, und dafür haben wir exklusive Sensoren wie Humint, also die menschlichen Quellen, oder Sigint, die Aufklärung im elektromagnetischen Raum. Solche Sensoren sind ein Grund dafür, dass wir so stark reguliert sind. Also müssen wir gegenüber der «Konkurrenz» auch einen deutlichen Mehrwert liefern.
Gelingt Ihnen das?
Ich denke schon, ja. Daneben gibt es noch den zweiten Auftrag: die operative Tätigkeit zur Prävention, also Spionageabwehr, Terrorbekämpfung, Schutz kritischer Infrastruktur (Cyber), Einsätze gegen den gewalttätigen Extremismus oder die Umgehung von Sanktionen. Das sind 70 Prozent unserer Arbeit. Auch deshalb mussten wir uns neu aufstellen. Unsere Partnerdienste taten das viel früher. Wir mussten die Transformation, die wir bei meinem Amtsantritt vor zwei Jahren in Angriff nahmen, mitten im hybriden Krieg durchführen.
Was bringt diese Transformation konkret?
Wir sind das Produkt einer Fusion aus dem Dienst für Analyse und Prävention (DAP), der für die innere Sicherheit zuständig war, und dem strategischen Nachrichtendienst, der das Ausland abdeckte. Daraus entstand 2010 der NDB. Man übernahm damals den gängigen Standard: Der Dienst war in einen Bereich Beschaffung von Nachrichten und in einen Bereich Analyse gegliedert – eine strenge Trennung. Jetzt wollen wir vor allem Wirkung erzielen und haben deshalb Impact Centers geschaffen. Alle Spezialisten für ein Thema sind jetzt im gleichen Team integriert und arbeiten nahe beieinander.
Wie eng begleitet die Departementschefin, Bundesrätin Viola Amherd, diese Transformation?
Ich habe jederzeit direkten Zugang zur Departementschefin. Zum Beispiel waren wir etwa während der Festtage wegen einer laufenden Operation im Austausch. Ich orientiere zudem jeden Monat an der Amtsleitungssitzung über unsere Aktivitäten und den Stand der Transformation. Regelmässig begleite ich die Departementschefin zu parlamentarischen Kommissionen.
War die VBS-Vorsteherin schon einmal bei Ihren Leuten?
Selbstverständlich. Der nächste Besuch findet übrigens bereits nächste Woche statt. Bundespräsidentin Amherd hat die Transformation angestossen, schon als ich mit ihr im Gespräch für das Amt war, und begleitet den Prozess.
Wie gehen Sie mit der Themenkonjunktur um, die von der Politik und den Medien gesetzt wird? Einmal steht Terrorismus im Zentrum des Interesses, dann nur noch die Pandemie und jetzt der Krieg.
Alle Nachrichtendienste sind im Jahr 2021 am Ende eines Zyklus angelangt, der mit dem Anschlag von 9/11 im Jahr 2001 begonnen hat, danach kamen die Anschläge durch die al-Kaida und den IS in Madrid, London und Paris. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat ein neuer Zyklus begonnen für die Nachrichten- und Sicherheitsdienste. Seit zwei Jahren befinden wir uns in einem hybriden Krieg, von dem auch die Schweiz, direkt oder indirekt, betroffen ist. Das bedeutet Desinformation, Umgehung von Sanktionen, Spionage, Cyberoperation oder Hacking. Experten sprechen von «Weaponisation of Everything». Hier agiert der NDB an vorderster Front. Er ist die erste Verteidigungslinie.
Was heisst das für den Dienst?
De facto ist der NDB von einem Nachrichtendienst in Friedenszeiten zu einem Dienst im hybriden Krieg übergegangen. Und gleichzeitig ist die terroristische Bedrohung in der Schweiz nach wie vor erhöht. Wir sind also an mehreren Fronten gleichzeitig beansprucht, und der Druck auf den NDB ist immens. Die multiplen Krisen überlagern sich und führen zu einer enormen Zunahme der Arbeit. Für den NDB ist der hybride Krieg kein theoretisches Konzept – es ist vielmehr eine Realität, der wir uns jeden Tag stellen müssen.
Mehr denn je gilt die Schweiz als Drehscheibe für Spionage. Es gibt die überdimensionierte russische Botschaft in Bern, auch Genf ist ein Zentrum. Wie gehen Sie damit um?
Mit den vorhandenen Mitteln machen wir das Maximum. Es ist nicht im Interesse der Schweiz, dass unser Land als Ziel oder als Drehscheibe für Spionage genutzt wird, sei das in der Forschung, auf dem Finanzplatz oder in der Bundesverwaltung. Was die Spionageabwehr anbelangt, sind wir in engem Kontakt mit dem EDA. Aber klar, das Thema wird uns noch lange beschäftigen.
Sie haben es bereits erwähnt: Die Nachrichtendienste verlieren ihre Exklusivität. Das zeigt sich exemplarisch im Bereich von Osint, dem Nutzen öffentlich zugänglicher Quellen. Mit Osint arbeiten inzwischen auch viele Medien, darunter die NZZ. Wie muss man sich die Osint-Abteilung im NDB vorstellen?
Nun, Osint gibt es, seit es den Nachrichtendienst gibt. Aber klar, früher hiess das anders, aber das Ziel ist dasselbe geblieben: die gezielte Gewinnung von Daten und Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen. Diese Arbeit hat in letzter Zeit an Umfang und Bedeutung gewonnen. Wie gross unsere Ressourcen sind, geben wir nicht bekannt, aber die Osint-Abteilung wird zur Erfüllung unserer Kernaufgaben eingesetzt.
Sind dem NDB beim Einsatz von Osint mehr rechtliche Schranken gesetzt als den Medien? Sind Sie diesbezüglich sogar im Nachteil?
Tatsächlich ist die Entwicklung in diesem Bereich enorm. Es stehen stets neue Tools zur Verfügung, und jedes Mal stellt sich für unsere Leute die Frage: Dürfen wir dieses Tool für unsere Arbeit einsetzen? Entspricht die Nutzung den gesetzlichen Vorschriften? Hier geraten wir als regulierter und kontrollierter Nachrichtendienst häufig in eine Grauzone, im Gegensatz vielleicht zu Journalisten oder auch Privatpersonen. Osint und natürlich auch KI bieten so viele neue, unglaubliche Möglichkeiten. Der NDB prüft die verfügbaren technischen Möglichkeiten und den rechtlichen Rahmen fortlaufend und passt seine Arbeitsmethoden den neuen Entwicklungen an.
Man hat den Eindruck, dass es innerhalb der Verwaltung eine gewisse Zurückhaltung gibt, Osint effektiv zu nutzen.
Die Geschichte des NDB ist belastet, von der Fichenaffäre bis zu den Cyber-Vorfällen, das prägt unsere Leute. Oftmals ist die Gesetzeslage noch nicht geklärt, was es nicht einfacher macht. All das hat in letzter Zeit vielleicht zu einer «Overcompliance» geführt. Unsere Mitarbeiter sind übervorsichtig und haben Angst, etwas falsch zu machen. Wir haben ein hervorragendes Osint-Team, in dem zwölf Sprachen gesprochen werden. Es ist also sehr viel Know-how vorhanden, und das Team ist auch technologisch auf dem neuesten Stand. Aber stets stellt sich die Frage, welche Anwendungen erlaubt sind und welche nicht. Das müssen unser Rechtsdienst und die Abteilung Data Quality immer wieder von neuem beantworten.
Der islamistisch motivierte Jugendliche, der kürzlich in Zürich mit dem Messer einen Juden töten wollte, hatte seine Tat, wenn auch klausuliert, tags zuvor auf verschiedenen sozialen Netzwerken angekündigt. Davon hat die Osint-Abteilung des NDB nichts mitbekommen.
Der NDB betreibt keine umfassende Überwachung des Internets. Die Abdeckung kann nie vollständig sein, und ein Risiko, dass eine Bedrohung nicht erkannt wird, bleibt bestehen, speziell bei Einzeltätern. In der Schweiz ist die innere Sicherheit eine Verbundaufgabe verschiedener Akteure. Es ist entscheidend, dass jeder Akteur des Bundes, der Kantone und der Gemeinden seine Rolle wahrnimmt. Sie alle stehen ein Stück weit in der Verantwortung, nicht nur der NDB.
Können Sie auch Erfolge aufweisen, was potenzielle Attentäter betrifft?
In der Schweiz hat der NDB in letzter Zeit mehrere Fälle von Minderjährigen identifiziert, die sich radikalisiert haben. Kürzlich haben wir mehrere Fälle aufdecken können. Zum einen mit eigenem Monitoring und unseren Partnern im Inland, zum anderen dank der Zusammenarbeit mit Nachrichtendiensten im Ausland. Ich bin extrem stolz auf unser Terrorabwehr-Team und dessen Erfolge, wir haben da viel bewirken können. Kein einziger Nachrichtendienst auf dieser Welt kann im Alleingang sämtliche Gefahren erkennen und abwenden. Eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Partnerdiensten ist deshalb unabdingbar, vor allem für uns als verhältnismässig kleinen Dienst. Es ist ein Geben und ein Nehmen: Wir bekommen Informationen, wir geben aber auch Informationen weiter.
Wie kann man sich diesen «Handel» von Informationen vorstellen?
Wir arbeiten mit über hundert ausländischen Partnerdiensten zusammen. Im vergangenen Jahr erhielten wir von all diesen Diensten 14 120 Meldungen. Gleichzeitig haben wir 5586 Meldungen an die ausländischen Partner geschickt.
Was ist in jenen Fällen passiert, die Sie in den vergangenen Wochen aufdecken konnten? Kam es zu Verhaftungen?
Über operationelle Schritte kann ich nichts sagen. Natürlich hängt das vom jeweiligen Fall ab. Aber es ist bekannt, dass die präventive Ansprache eines Verdächtigen ein probates Mittel sein kann. Fedpol ist für die Repression zuständig, der NDB für die Prävention. Für diese heikle Aufgabe haben wir sehr qualifizierte, gut ausgebildete Leute in der Terrorabwehr. Das alles geschieht in der Schweiz in Zusammenarbeit mit unseren zahlreichen Partnern im Rahmen des Aktionsplans gegen Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus.
Abgesehen von Angriffen durch Einzeltäter gab es in der Schweiz bis anhin keinen jihadistisch bedingten Anschlag. Hatten wir einfach Glück?
Die terroristische Bedrohung stufen wir weiterhin als erhöht ein. Nach unserer Einschätzung wäre das am ehesten ein Angriff gegen ein schwach geschütztes Ziel, zum Beispiel eine Menschenansammlung, was nur wenige logistische und organisatorische Mittel erfordert. Aus unserer Sicht sind aber andere Staaten exponierter, insbesondere solche, die sich militärisch an einer internationalen Koalition gegen den IS beteiligen. Ich weiss nicht, ob man es Glück nennen kann, dass wir bisher nicht von einem Anschlag betroffen gewesen sind. Ich denke, im Nachrichtendienst sollte man nicht von Glück sprechen.