Die amerikanische Autorin Anne Boyer hat den Brustkrebs überlebt. Dafür hat sie einen Abgrund durchschritten und nimmt dorthin schonungslos ihre Leser mit.
Lakonischer als Anne Boyer kann man einen Bericht kaum beginnen. «2014 wurde bei mir Brustkrebs diagnostiziert, mit 41.» Den Bericht über die eigene Krankengeschichte, eine Reise in einen Abgrund, in den «niemand einem folgen kann, um einen zu retten, und niemand, den:die man liebte, jemals gewesen ist», so beschreibt sie es.
Es gab schon einmal eine amerikanische Schriftstellerin, die sich an einem solchen Projekt versucht hat. «Krankheit als Metapher» nannte die amerikanische Intellektuelle, Schriftstellerin und Regisseurin Susan Sontag ihren Essay, bei der ebenfalls mit 41 Jahren Brustkrebs gefunden wurde. Susan Sontag tat sich schwer mit diesem Projekt: Sie konnte sich nicht überwinden, die Worte Krebs und ich in einem Satz zu verwenden. Sie musste sich irgendwie von ihrer Krankheit distanzieren.
Apokalypse des Schmerzes
Boyer ist in ihrem 2019 im Original erschienenen Buch «Die Unsterblichen» gnadenloser mit sich und den Lesern. Die inzwischen 51-jährige Amerikanerin blickt ihrer Krankheit in die Fratze und nimmt ihre Leser auf die Reise in den Abgrund mit, wenn sie etwa beschreibt, wie sich durch die Chemotherapie ihre Fingernägel lockern und sie verzweifelt versucht, diese festzubinden. Sie sollen nicht auch noch verschwinden, so wie Haare, manche Gehirnzellen und Liebhaber, Freunde oder Freundinnen, die es nicht mehr über sich brachten, der Kranken in ihrem Elend beizustehen.
Schmerzen seien so eine private Sache, dass sie sich «schlechterdings nicht mehr mitteilen» liessen, hat Hannah Arendt einmal geschrieben. Aber nur, weil es noch niemand richtig versucht habe, meint Anne Boyer. Und schildert die «plötzlich einschiessende Elektroapokalypse des Schmerzes absterbender Nervenenden» und «den kissenweich gestopften Schmerz des entzündeten Körpers beim Kontakt mit der Matratze».
Das Ergebnis ist eine scharfsinnige, entwaffnend ehrliche, beissend kritische, bisweilen sogar tröstliche und stellenweise geradezu poetische Abhandlung über Brustkrebs im Speziellen, aber auch den Menschen als Kranken im Allgemeinen. Manchmal meint man fast ein Gedicht zu lesen, so schön, so treffend sind die Worte, die sie wählt. Immer wieder hat man allerdings auch Mühe, ihre Umschreibungen zu verstehen. Womöglich liegt es daran, dass das Buch nie an Gesunde gerichtet war, wie die Autorin betont.
Anne Boyers Buch ist aber auch eine Anklage: An die Ärzte, die sich wie beleidigte Kinder gebärden, wenn man einmal den Rat eines Kollegen vorzieht. An ein auf Gewinnmaximierung ausgelegtes Gesundheitssystem, das Patientinnen nach einer beidseitigen Brustentfernung, kaum aus der Narkose aufgewacht, vor die Kliniktüre schickt. Im Bett soll schnell eine neue Patientin liegen.
Wer überlebt, und wie?
Und es ist eine Anklage an eine Gesellschaft, die eigentlich nur einen Typ von Brustkrebskranken wahrnehmen möchte: diese, die «dank Wohlverhalten, 5-km-Läufen, grünen Bio-Smoothies und positivem Denken» überlebt haben. Die Wahrheit, dass 20 Prozent der Frauen in den ersten fünf Jahren ihrer Krankheit sterben, möchte man lieber ausblenden. Die Autorin kann auch nicht nachvollziehen, wie sich diese Gesellschaft damit abfindet, dass arme, unverheiratete, schwarze Frauen häufiger zum Tod durch Brustkrebs verurteilt sind. Weil die Medizin ihnen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt.
Sie sei nun fünf bis zehn Lebensjahre ärmer, so beschreibt es Anne Boyer, und «einiger neuronalen Mitochondrien, des Aussehens, etlicher Erinnerungen und einiger Intelligenz» beraubt, aber das nimmt sie tapfer hin. «Jetzt, wo ich unsterbe, ist die Welt voller Möglichkeiten», schreibt sie. «Ich gebe gerne zu, dass kein Tag vergeht, an dem ich nicht davon begeistert bin, immer noch leben zu dürfen.»
Anne Boyer hat überlebt. Es tue ihr nur leid, dass sie nicht alles habe aufschreiben können. Aber schon dieser unvollständige Bericht reichte, um 2020 den Pulitzerpreis im Bereich Sachbuch zu gewinnen, den wichtigsten amerikanischen Medienpreis. Man kann die Juroren verstehen. Denn man hat ihre Geschichte miterlebt.
Anne Boyer: Die Unsterblichen – Krankheit, Körper, Kapitalismus. MSB Matthes & Seitz, Berlin 2021. 280 S., Fr. 35.90.
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