Sie war das Gesicht des Missbrauchsskandals um Jeffrey Epstein und warf Prinz Andrew vor, sie missbraucht zu haben. Die Geschichte eines Überlebenskampfes.
Sie sei als Teenager herumgereicht worden wie eine «Früchteplatte», sagte Virginia Giuffre einmal. Als minderjährige Frau geriet sie in die Fänge des mächtigen Investmentbankers Jeffrey Epstein und seines Prostitutionsrings. Später trat sie öffentlich als Klägerin gegen ihn auf und hat damit massgeblich dazu beigetragen, dass der vielleicht bekannteste Sexualstraftäter der USA zu Fall kam.
Virginia Giuffre war eine der wichtigsten Figuren in einem Skandal um Macht und Missbrauch. Nun ist sie tot. Am Freitag, 25. April, beging sie Suizid. Sie starb im Alter von 41 Jahren auf ihrem Bauernhof in Australien.
Sie beschuldigte den mächtigen Financier und seine Gehilfin Ghislaine Maxwell, einen Missbrauchsring mit minderjährigen Mädchen betrieben zu haben. Er habe sie und andere junge Frauen mit dem Versprechen angelockt, sie zur Masseurin auszubilden. Stattdessen habe er sie Männern aus der High Society angeboten und zu Sex gezwungen.
Als eines der ersten Opfer hat sich Giuffre zu Wort gemeldet. In Gerichtsdokumenten trat sie zunächst als Klägerin Jane Doe 102 auf. Bald darauf stand sie mit ihrem richtigen Namen hin und gab der jahrelangen Ausbeutung Jeffrey Epsteins ein Gesicht. Weitere Opfer sagten später, erst als Giuffre ihre Stimme erhoben habe, hätten sie den Mut gefunden, gegen Epstein auszusagen.
In der Öffentlichkeit schien sie die unerschrockene Frau zu sein, die ihrem Leben, geprägt von Gewalt und Missbrauch, eine neue Wendung gab. Nach ihrem Tod wird klar: Sie entkam der Gewalt und dem Missbrauch nie.
Prinz Andrew soll sie als Minderjährige vergewaltigt haben
Virginia Giuffre, die früher Roberts hiess, brachte mit ihren Aussagen nicht nur Epstein, sondern auch den britischen Palast in Bedrängnis. Sie beschuldigte Prinz Andrew, sie sexuell missbraucht zu haben, als sie noch minderjährig war. Der Prinz stritt sämtliche Anschuldigungen ab und behauptete, sie nie getroffen zu haben. Ein Foto mit der 17-jährigen Virginia Roberts, Prinz Andrew und Ghislaine Maxwell legte zumindest einen engen Kontakt nahe. Das Bild sei gefälscht, beteuerte der Royal.
Giuffres Beschreibungen der Treffen mit dem Prinzen waren detailliert, sie beschrieb etwa, wie er stark geschwitzt habe. Dessen Bemühungen, seinen Ruf zu retten, gipfelten 2019 in einem Fernsehinterview, in dem er erklärte, er habe aufgrund eines «Adrenalinüberschusses» im Falklandkrieg zu jener Zeit gar nicht schwitzen können.
Prinz Andrew, der angebliche Lieblingssohn der Queen, musste seine militärischen Ehrentitel abgeben, durfte sich fortan nicht mehr «His Royal Highness» nennen und trat kaum mehr öffentlich auf. Zum Prozess kam es jedoch nie; er hat sich mit Virginia Giuffre aussergerichtlich geeinigt. Internationale Anwälte spekulierten damals im «Guardian», dass der Prinz einen Geldbetrag von mehr als 10 Millionen Dollar habe bezahlen müssen.
Sie flüchtete in den erneuten Missbrauch
Fast alle Opfer Epsteins hatten gemein, dass sie aus sozial benachteiligten Verhältnissen stammten und sein Angebot, ihnen zu helfen, als Ausweg aus ihrer Perspektivlosigkeit sahen.
Virginia Giuffre war das perfekte Opfer. Sie wuchs im kalifornischen Sacramento auf, später zog die Familie nach Florida. Ihre Eltern liessen sich früh scheiden. Im Alter von sieben Jahren sei sie von einem Freund ihrer Familie vergewaltigt worden, daheim soll sie häuslicher Gewalt ausgesetzt gewesen sein. Sie lebte in Pflegefamilien und mit 14 Jahren auf der Strasse, wo sie «nichts fand ausser Hunger, Schmerz und noch mehr Missbrauch». Schliesslich zog sie zu ihrem Vater nach Florida.
Der Vater arbeitete in Mar-a-Lago, dem Privatklub des späteren Präsidenten Donald Trump. Giuffre jobbte im dazugehörigen Garderobebereich – und habe dort, gerade einmal sechzehnjährig, eine gewisse Ghislaine Maxwell kennengelernt, die ihr angeboten habe, sie zur Masseurin auszubilden und sie ihren reichen und mächtigen Freunden vorzustellen. Es hätte Roberts’ grosse Chance sein sollen, endlich ein glückliches Leben zu führen. Stattdessen war es der Beginn einer Tortur, die ihr ganzes Leben bestimmen sollte.
Die nächsten Jahre stand die junge Virginia Roberts im Dienste Epsteins. Er lockte nicht nur mit leeren Versprechen: Die junge Frau lernte Politiker, CEO und Prinzen kennen. Und drei Jahre nach dem schicksalshaften Treffen in Mar-a-Lago sei sie für eine Massageausbildung nach Thailand geschickt worden.
Bloss: Mit den Mächtigen sei es nicht bei harmlosen Massagen geblieben, sondern zum Missbrauch gekommen. Und bei ihrer Rückreise aus Thailand hätte sie eine von Epstein ausgesuchte junge Thailänderin in die USA mitnehmen sollen.
Was Virginia Giuffre widerfahren sein soll, basiert auf ihren eigenen Aussagen. Es gibt keine Zeugen, die ihre Geschichte bestätigen, und kein Urteil, nur weitere Frauen mit ähnlichen Geschichten.
Immer wieder lud Jeffrey Epstein die Reichen und Mächtigen zu Partys auf seine Privatinsel in der Karibik ein. Zu Epsteins Dunstkreis zählten Donald Trump, der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, Bill Clinton, Harvey Weinstein, Woody Allen, Tony Blair, Bill Gates, Mick Jagger und viele weitere. Wer von ihnen Mitwissender oder gar Mittäter war, wer mit ihm befreundet und wer lediglich Geschäftspartner war, ist bis heute ungewiss.
Jeffrey Epstein wurde zwar 2008 bereits einmal wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt, einigte sich mit der Staatsanwaltschaft Florida aber auf eine vergleichsweise harmlose Strafe. Er sass damals 13 Monate Gefängnis ab – obwohl ihm bereits damals mehrere Teenager vorwarfen, sie sexuell missbraucht und vergewaltigt zu haben.
Erst 2019 wurde der Fall Epstein neu ins Rollen gebracht, es war die Zeit nach der #MeToo-Bewegung. Epstein wurde verhaftet, die weltweite Empörung war ihm diesmal sicher. Die Vorwürfe waren nun umso schwerwiegender: Er soll über Jahre einen illegalen Prostitutionsring in New York und Florida betrieben haben. Eine der Hauptklägerinnen: Virginia Giuffre.
Neben Epstein und Prinz Andrew klagte Giuffre auch gegen den bekannten Strafverteidiger Alan Morton Dershowitz und gegen den Unternehmer Jean-Luc Brunel. Giuffre zog die Anklage gegen Dershowitz zurück, Brunel nahm sich das Leben, bevor das Verfahren gegen ihn abgeschlossen war.
Zum grossen Prozess gegen Epstein kam es nie. Noch in Untersuchungshaft nahm er sich das Leben. Seine Komplizin Ghislaine Maxwell wurde 2022 des «sex trafficking» mit Minderjährigen schuldig gesprochen, also des Menschenhandels zwecks Prostitution, und zu 20 Jahren Haft verurteilt. Ihre Opfer berichteten, dass sie sowohl die jungen Frauen Epstein zugeführt habe als auch selbst am Missbrauch beteiligt gewesen sei. Maxwell schweigt bis heute dazu.
Das Glück fand sie nie
Virginia Giuffres Leben aber schien nach Epstein jene glückliche Wendung erhalten zu haben, die sie sich immer erhofft hatte. Sie zog nach Australien und heiratete den Kampfsporttrainer Robert Giuffre, den sie damals in Thailand kennengelernt hatte. Das Paar bekam drei Kinder.
Ihr Mut, den Opfern Epsteins eine Stimme zu geben, wurde in der Öffentlichkeit gepriesen. Virginia Giuffre schien den Kampf gegen den jahrelangen Missbrauch gewonnen zu haben. Was die Öffentlichkeit nicht wusste: Auch ihr neues Leben brachte Virginia Giuffre nicht das ersehnte Heil.
Anfang 2025 rückte die Polizei wegen eines Vorfalls von häuslicher Gewalt zu der Farm aus, auf der Giuffre mit ihrem Mann lebte. Aufgrund dieses Einsatzes wurde bekannt, dass die beiden sich getrennt hatten und sich offenbar um das Sorgerecht ihrer Kinder stritten. Sie selbst erklärte später in einem Interview mit «People», in ihrer Ehe jahrelang missbraucht worden zu sein.
In einem früheren Gerichtsverfahren gab Giuffres Ehemann an, er sei Hausmann und müsse seine Frau seit einem Genickbruch vor ein paar Jahren durchgehend betreuen.
Im März teilte Virginia Giuffre ein Bild auf Instagram, auf dem sie mit blauen Flecken übersät auf einem Krankenbett liegt. Sie schrieb darunter, sie sei mit einem Schulbus kollidiert. Nun leide sie an Nierenversagen, und man habe ihr «noch vier Tage zu leben» gegeben.
Ihr Post löste viele negative Reaktionen aus, Giuffre soll den Vorfall inszeniert haben, hiess es. Die Polizei nämlich gab an, es habe beim Unfall keine Verletzten gegeben. Giuffres Sprecherin relativierte die Aussagen einen Tag später. Bis heute ist unklar, ob ihre Verletzungen tatsächlich vom Unfall kamen oder ob der Post ein letzter Hilfeschrei war.
Sie sei bereit zu gehen, schrieb sie darin. Sie wünsche sich aber, ihre Babys noch ein letztes Mal zu sehen. Dann fügte sie an: «Aber ihr wisst ja, was man über Wünsche sagt.»
Drei Wochen später begeht Virginia Giuffre Suizid. Es ist das Ende des Überlebenskampfes, den sie ihr ganzes Leben lang geführt hatte. Und womöglich ein letzter Akt, die Kontrolle darüber zurückzuerlangen.
Hier bekommen Sie Hilfe:
Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, gibt es verschiedene Hilfsangebote:
In der Schweiz können Sie die Berater der Dargebotenen Hand rund um die Uhr vertraulich unter der Nummer 143 erreichen.
In Deutschland finden Sie entsprechende Hilfe bei den Beratern der Telefonseelsorge, online oder telefonisch unter der Nummer 0800 / 1110111.