Kam die Idee von der Avantgardistin Elsa von Freytag-Loringhoven? Die Urheberschaft eines der bedeutendsten Kunstwerke der Moderne wurde wiederholt in Zweifel gezogen. Ob «Fountain» wirklich von Marcel Duchamp stammt, wird wohl nie geklärt werden können.
Es ist das Anti-Kunstwerk schlechthin. Und fast so berühmt wie die Mona Lisa. Man kann darin mit etwas Phantasie sogar die Umrisse der porträtierten Florentinerin erkennen, oder sozusagen deren Hohlform. Und auf einer Werteskala dessen, was Kunst ist – und seit ihrer radikalen Infragestellung durch die Moderne auch noch alles sein kann –, befindet sich «Fountain» exakt am gegenüberliegenden Ende: ganz oben die Vervollkommnung der Malerei in Gestalt einer mysteriös lächelnden Frau, gemalt im Jahr 1503; und ganz unten ein für die Entleerung von Männerblasen produziertes Sanitärobjekt, schlicht auch Pissoir genannt, das 1917 durch einen kühnen Streich zum Kunstwerk erhoben wurde.
Auf der einen Seite das grösste Kunstwerk der Welt, geschaffen von einem Universalgenie: dem Renaissancekünstler Leonardo da Vinci. Auf der anderen eine geradezu niederträchtige Verulkung von Kunst, deren Autorschaft auf einen der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts zurückgeht: den französisch-amerikanischen Begründer der Konzeptkunst Henri Robert Marcel Duchamp. Der Gegensatz könnte kaum grösser sein.
Um allerdings diese Gegenüberstellung der Extreme noch etwas perfekter zu machen, wäre es reizvoll, sich einen noch etwas gesteigerten Gegenpol zum grossen Maler, Bildhauer, Architekten, Anatomen, Mechaniker, Ingenieur, Naturphilosophen und Erfinder aus Anchiano bei Vinci vorzustellen. Wie wäre es mit einer Frau? Einer fast unbekannten dazu? Der eine also malt die Frau in vollkommener Gestalt als Quintessenz abendländischer Kunst, die andere aber konterkariert diese Vorstellung mit einem Ding, in das sich Männer erleichtern.
Verwirrspiel
Tatsächlich wurde die Urheberschaft von «Fountain» immer wieder in Zweifel gezogen. Die Idee, ein Pinkelbecken ins Museum zu tragen und auf einen Sockel zu stellen, soll nicht Marcel Duchamp gehabt haben, sondern Elsa von Freytag-Loringhoven. Die deutsche Avantgardistin war eine schillernde Figur des New Yorker Dadaismus. Sie war mit Duchamp bekannt, und wie dieser machte sie die Veralberung der Kunst zu ihrem Sport. Wiederholt ist sie mit dem fraglichen Urinal, das immerhin als das einflussreichste Kunstwerk des 20. Jahrhunderts gilt, in Verbindung gebracht worden.
Elsa von Freytag-Loringhoven war mindestens so exzentrisch wie Duchamp, den sie gerne Dushit nannte. Die auch als «Baroness» bekannte Avantgardistin liebte den Wortwitz, bewegte sich virtuos auf dem Gebiet der experimentellen Lyrik und wirbelte in extravaganter Kleidung durch die New Yorker Kunstszene. Eine Zeitgenossin beschrieb sie einmal als «eine Kombination aus Jesus Christus und Shakespeare».
Duchamp selber sagte von ihr mit Seitenblick auf die damals neu aufgekommene Kunstrichtung des Futurismus: «Sie ist keine Futuristin. Sie ist die Zukunft.» Zusammen mit Duchamp und Man Ray drehte sie 1921 den Film «The Baroness Shaves her Pubic Hair». Geboren wurde die Künstlerin als Elsa Hildegard Plötz 1874 in Swinemünde. In dritter Ehe war sie mit einem Baron verheiratet. 1927 starb sie verarmt in Paris, offenbar im Schlaf, an einer Gasvergiftung.
Elsa von Freytag-Loringhoven wäre es zuzutrauen gewesen, einen Kunstwitz in Form eines Urinals zur Ausstellung der Society of Independent Artists im New Yorker Grand Central Palace einzureichen. An der damals grössten Kunstschau New Yorks durften alle teilnehmen, die Mitglied dieser bunt zusammengewürfelten Gesellschaft unabhängiger Künstler waren. Für die Gebühr eines Dollars konnte man ausstellen, was immer man wollte. Die 1917 ausgerichtete Schau vereinte über zweitausend Werke.
Wer auch immer das Urinal einschickte, ging allerdings einen Schritt zu weit. Das mit dem Pseudonym R. Mutt signierte Objekt wurde nicht ausgestellt. So frei war die Kunstfreiheit der sich in der selbsternannten Society of Independent Artists formierenden Freigeister der New Yorker Kunstszene von damals eben doch nicht. Unter den Mitgliedern entbrannte eine hitzige Debatte darüber, was Kunst sei und was nicht.
Marcel Duchamp trat unter Protest aus der Society aus. Den Entscheid, «Fountain» von der Ausstellung zu verbannen, erachtete er als einen Verrat an den Grundsätzen dieser Künstlergesellschaft. Seine Gedanken dazu teilte er in einem Brief an seine Schwester in Paris mit. Darin erwähnt er auch vage die Autorschaft des Pissoir-Kunstwerks. «Eine meiner Freundinnen sandte unter dem Pseudonym Richard Mutt ein Urinal aus Porzellan als Skulptur ein.»
Damit gab Duchamp zu, dass nicht er selber die Idee zu «Fountain» hatte. Später allerdings hat der Erfinder des Readymade die Autorschaft für sich reklamiert. In Interviews schilderte Duchamp, der auch schon Flaschentrockner und Schneeschaufeln in die Kunstgalerie getragen hatte, dass er das Urinal in dem New Yorker Sanitärgeschäft J. L. Mott Iron Works erworben habe, auf welches das Pseudonym R. Mutt zurückgeht.
Eine dreiste Lüge? Selbst Duchamp-Experten räumen Ungereimtheiten bezüglich der Urheberschaft von «Fountain» ein. Die Kunstgeschichte hält aber hartnäckig an dem ruhmreichen Schöpfer fest. Immerhin gilt Duchamp neben Picasso als der einflussreichste Künstler der Moderne. Und so erachtet die Mehrheit der Kunsthistoriker die sich um das Urinal rankenden Spekulationen als das Ergebnis eines für Duchamp charakteristischen Verwirrspiels.
Nur ein Scherz
Dass das anrüchige Kunstwerk des obskuren Mr. Mutt überhaupt existierte, belegt allein eine Fotografie von Alfred Stieglitz. Der Fotograf und Galerist stellte 1917 das Stück in seiner eigenen Galerie aus. Seitdem gilt «Fountain» – das Original – als verschollen. Wahrscheinlich landete es auf dem Müll. Was man heute in Museumssammlungen zu Gesicht bekommt, sind alles Repliken.
Warum aber hat Elsa von Freytag-Loringhoven nie die Autorschaft für diese Ikone der modernen Kunst reklamiert? «Fountain» betrachtete sie wohl lediglich als einen Scherz. Zu einem Kunstwerk von erheblicher Bedeutung gemacht wurde dieser Streich erst durch die Kunstgeschichte. Und dafür bedurfte es eines grossen Künstlernamens. Die Dada-Baronin eignete sich nicht dafür. Sie geriet in Vergessenheit.
Bis die amerikanische Autorin Siri Hustvedt 2019 im «Guardian» von der Kunstwelt forderte, die wahre Autorschaft von «Fountain» endlich anzuerkennen. Für Elsa von Freytag-Loringhoven interessiert sich jetzt auch die niederländische Künstlerin und Regisseurin von Dokumentarfilmen Barbara Visser. In ihrer zurzeit im Kunsthaus Zürich gezeigten Filminstallation «Alreadymade» begibt sie sich auf Spurensuche nach der vermeintlichen «Fountain»-Schöpferin. Was Fakt ist und was Fiktion an der rätselhaften Geschichte um das berühmte Pissoir und seine Protagonisten Marcel Duchamp und Elsa von Freytag-Loringhoven, bleibt natürlich auch in Vissers facettenreichem Film-Krimi offen.
«Alreadymade», Kunsthaus Zürich, bis 12. Mai.