Julia Gerber Rüegg und ihr Mann Willy Rüegg haben fast im Alleingang die Abstimmung über den Uferweg erzwungen.
Das kann unmöglich dieses Duo infernale sein, das die Besitzer der Häuser am Zürichsee in ihren Albträumen heimsucht. Ein freundliches Paar im Pensionsalter betritt den vollen Saal im Zunfthaus zur Waag, dieser holzgetäfelte Hort Stadtzürcher Bürgerlichkeit. Sie trägt eine bunte Bluse, er Cordhose. Man würde nicht auf linke Aktivisten tippen, eher auf zwei ehemalige Lehrer oder die Leiter der Gemeindebibliothek.
Dann steht die Frau hinters Rednerpult, und kaum hat sie in ihrem scharfen Zürcher Dialekt die ersten Sätze ins Publikum geschleudert, hat sie es gegen sich aufgebracht. Empörtes Stöhnen geht durch die Reihen.
Viele in diesem Saal fürchten um ihr Grundeigentum, aber die Rednerin behauptet: «Wir wollen niemandem etwas wegnehmen.» Viele sehen ihre Rechte bedroht, aber sie sagt: «Uns geht es um Rechtssicherheit.»
Es ist der 7. Februar, einen Monat vor der Abstimmung über den Uferweg am Zürichsee. Die Frau am Rednerpult heisst Julia Gerber Rüegg, sie ist das Gesicht der Initiative. Und sie ist in Fahrt, weil ihre Gegenspielerin, die FDP-Regierungsrätin Carmen Walker Späh, doppelt so lange reden darf. Der Einzige, der ob ihrer Unverfrorenheit nicht zusammenzuckt, sitzt in der ersten Reihe und lächelt still. Es ist ihr Mann.
Willy Rüegg würde nie so auftreten. Er ist ein diplomatischer Typ mit sanfter Stimme. Einer, der seine Meinung in nette Worte kleidet. Er weiss, dass der Stil seiner Frau die einen einschüchtert und andere zur Weissglut treibt. Aber er hat sich daran gewöhnt: «Sie bringt die Dinge extrem gut auf den Punkt – viel besser, als ich es könnte.»
Er hat dafür ein dickes Buch über den Uferweg geschrieben, Grundlagenarbeit im Backoffice. Die Initiative ist quasi an ihrem Küchentisch entstanden, ihr Haus war die Kampagnenzentrale.
Tabubrüche und Politik als Therapiesitzung
Julia Gerber Rüegg sorgte schon als junge SP-Politikerin für rote Köpfe. 1990 legte sie sich mit den versammelten Grössen der Lokalpolitik am See an. Sie wollte eine 700-Jahr-Feier zu Ehren der Eidgenossenschaft verhindern, weil sie sich um die Natur am Seeufer sorgte. Ihren Gegnern warf sie Überforderung vor – die genauen Worte sind nicht überliefert, aber die NZZ würdigte sie damals als «deplatziert».
Gerber Rüegg kann gar nicht anders: «Der Tabubruch macht mir Spass», sagt sie vergnügt. Sie halte verdeckte Spannungen nicht aus, darum lasse sie nicht locker, bis alle wunden Punkte offenlägen. Dieser Hang, Politik zur Therapiesitzung zu machen, zieht sich durch ihre politische Karriere.
So unterschiedlich die Temperamente von Julia Gerber Rüegg und Willy Rüegg sein mögen, das Paar ist durch einen Charakterzug verbunden: Wo sie ein Unrecht zu erkennen meinen und auf Widerstand stossen, reagieren sie mit Trotz. Mit Hartnäckigkeit an der Grenze zur Sturheit.
Die Forderung nach einem durchgehenden Seeuferweg ist ein Kampf, den sie seit über zwanzig Jahren führen – überzeugt, dass geltendes Recht verletzt wird. Aus einem anfangs beiläufigen Interesse wurde eine Lebensaufgabe. Eine, die an diesem Abstimmungssonntag zu Ende ging.
Während draussen die Massen der Limmat entlangflanieren, sitzen die beiden mit einem Häufchen Mitstreitern im Dämmerlicht eines viel zu grossen Saals beim Bier. Die meisten Tische bleiben leer. «Dieser Anlass ist so attraktiv wie die GV eines Fussballvereins» – Willy Rüegg rettet sich in Galgenhumor. Zu klar ist das Verdikt: 64 Prozent Nein. Julia Gerber Rüegg lacht tapfer, verbreitet Zuversicht. Der Kampf gehe weiter.
Es war das letzte Aufbegehren eines Paares, dessen bemerkenswerte Karrieren als Personen des öffentlichen Lebens unvollendet geblieben sind. Weil das, was sie antreibt, sie auch bremste. Sie haben ihr Haus in Au mit Blick auf den See, ihr Ruderboot. Sie können nicht klagen. Aber da sind Enttäuschungen, die nie ganz verheilt sind.
Er machte den Doktortitel nur, um etwas zu beweisen
Julia Gerber wuchs in einem bürgerlichen Haus in Uerikon am Zürichsee auf, in einer Linie selbstbewusster Frauen: Die Grossmutter, die in Amerika ein Vermögen gemacht hatte, zahlte ihren Kindern eine gute Ausbildung; die Mutter, die davon profitiert hatte, trat für Emanzipation ein.
Der Vater war Ingenieur und FDP-Mitglied. Von ihm erbte sie die Überzeugung, ein freier Mensch zu sein, der sich nichts vorschreiben lassen muss. Dass damit aber auch Verantwortung einhergeht.
Dieses Credo war für sie mehr kategorischer Imperativ als Parteislogan. Aber es erklärt, warum ihre spätere Laufbahn als SP-Politikerin und Gewerkschafterin nicht reibungsfrei verlaufen konnte. Zu ausgeprägt ihr Widerwille, sich grossen Apparaten zu beugen. Wenn sie spuren soll, sagt sie: «Geht’s noch?» Das hat sie mit ihrem Mann gemeinsam.
Willy Rüegg stammt aus anderen Verhältnissen: Seine Eltern waren beide als mittellose Bauernkinder in die Stadt Zürich gekommen – die Sippschaft der Mutter hatte bei einem Grossbrand alles verloren. Der Vater zog dann als Pionier eine der ersten Fahrschulen der Stadt auf, und alle packten mit an. So kamen sie zu Wohlstand.
Der junge Willy schaffte es ans Gymnasium, hatte es aber als einziger Schüler aus nichtakademischem Haus schwer. Seine Lehre fürs Leben: Aufstieg führt zu materieller Sicherheit, aber nicht zu sozialer Anerkennung. «Ich werde es allen zeigen!», sagt er sich. Er wechselte an eine Privatschule, schloss mit Bestnoten ab und hängte ein Geschichtsstudium samt Doktortitel an. Dabei hatte er gar keine akademischen Ambitionen – aber etwas zu beweisen.
Auch Julia Gerber nahm aus Trotz ein Studium auf, in Biochemie – ihr Rektor hatte den Fehler gemacht, zu behaupten, dies sei nichts für Frauen. Als nach dem Tod des Vaters das Geld knapp wurde, schwenkte sie auf Lehrerin um und revidierte rasch ihr Credo: Eigenverantwortung ist gut, nützt aber wenig, wenn man schlechte Startchancen hat. Sie kümmerte sich um schwache Schüler. Und trat der SP bei.
Ihr politischer Coup hat seiner Karriere geschadet
«Ich ging nur wegen Julia in die SP», sagt Willy Rüegg. Als sich die beiden Mitte der 1980er Jahre kennenlernten, gab er auch sein unstetes Junggesellenleben auf. Über die Jahre war er Taxifahrer, Flugbegleiter, Lehrer gewesen; er lebte in einer WG und reiste um die Welt. Nun wurde er Ehemann, Vater, PR-Mann bei der Kantonalbank. Rasch erklomm er die Karriereleiter – bis seine Frau eine provokative Idee hatte.
Julia Gerber Rüegg war in Wädenswil in die Lokalpolitik eingestiegen. Ihr Mann hatte sie unterstützt. Er verdiente gut und kam stets vorzeitig nach Hause zu den Kindern, wenn sie Sitzung hatte.
Als dann 1993 die Gemeindeordnung überarbeitet wurde, schlug sie im Gemeinderat überraschend vor, alle neutralen Begriffe in weiblicher Form zu formulieren – darin sei die männliche schliesslich enthalten. Weil dieser Antrag in der FDP und sogar in der SVP auf Anklang stiess, kam er vors Volk. Dort scheiterte er zwar, aber geschlechtergerechte Sprache war in Schweizer Amtsstuben plötzlich ein Thema. Und Julia Gerber Rüegg eine Prominente. Im Jahr darauf wurde sie Kantonsrätin.
Man kannte sie nun auch im Bankrat: Wenn Willy Rüegg dort auftrat, hiess es maliziös: «Und? Wie geht es Ihrer Frau?» Das Ehepaar ist überzeugt: Ihr Coup – und die Verortung im linken Milieu – haben seiner Karriere bei der ZKB geschadet.
Das Paar gründete ein PR-Unternehmen, dadurch waren sie selbstbestimmt und immer nah bei den Kindern. Später wechselte Willy Rüegg zum Kaufmännischen Verband, wo er in den 2000er Jahren zum Sprachrohr krisengeschüttelter Banker avancierte. Auch dort reichte es aber «nur» zum stellvertretenden Geschäftsführer. Er hätte es gerne ganz an die Spitze geschafft.
Zu forsch, zu wenig nett – der Bruch mit der SP
Julia Gerber Rüegg sollte ebenfalls an eine Decke stossen. Sie stieg zwar in den Gewerkschaften auf, aber den Sprung in den Nationalrat schaffte sie in fünf Anläufen nicht. Immer wieder stand ihr SP-Prominenz vor der Sonne.
Als ihr Moment nach Jahren des Wartens endlich gekommen schien, strich die Partei ihren Namen 2015 überraschend von der Liste. Offiziell, um neuen Leuten eine Chance zu geben. Es spielten aber auch andere Motive mit: Konflikte zwischen Stadt und Land, Ansprüche der Juso, eine Abrechnung unter Gewerkschaftern. Und die Tatsache, dass sich Gerber Rüegg mit ihrer Art nicht nur Freunde gemacht hatte.
Im Gespräch kann sie offen und humorvoll sein, aber sie ist auch eine, die schnell in Rage gerät und ihrem Gegenüber unverblümt vorwirft, Blödsinn zu reden. Sie wäre gerne altersmilde – es bleibt beim Wunsch. In der SP fanden wohl einige: zu sehr von sich überzeugt, zu forsch, zu wenig nett. Eine Prise Badran und einen Schuss Jositsch zu viel.
Gerber Rüegg hält dagegen, sie sei nicht besserwisserisch. Zum Seeuferweg etwa habe sie früher selbst Blödsinn behauptet, aber daraus gelernt. Sie sei der neuen SP-Generation wohl einfach zu konservativ und brav gewesen. Noch heute ist sie überzeugt: «Ich wäre eine gute Nationalrätin geworden.»
Stattdessen kam es zum Bruch mit der Partei. Auch Willy Rüegg, der im Bezirk politisiert hatte, trat aus. Ihn habe die Kaltschnäuzigkeit der Stadtzürcher SP entsetzt, die mehr und mehr den Ton angegeben habe. Mit den neuen Themen, vor allem dem Wokeness-Komplex, können beide nichts anfangen. Von Jüngeren werden sie dafür manchmal belächelt: Sie würden in einem Raumschiff leben. Völlig losgelöst.
Ganz so entspannt waren die beiden vor dem Abstimmungssonntag dann doch nicht – auch wenn sie seine Bedeutung herunterspielten.
Es ist zwar nachvollziehbar, weshalb Julia Gerber Rüegg den Seeuferweg nicht als ihr Lebenswerk verstanden haben will. Da war so viel anderes, Wichtigeres. Ihr Mann zählt auf: ihre Rolle als Feministin, ihre Kampagnen als Arbeitnehmervertreterin. Von diesem Selbstverständnis zeugt ein Wikipedia-Eintrag, der doppelt so lang ist wie jener von Alain Berset. Und doch war es der Seeuferweg, der dieses Paar im Unruhestand plötzlich wieder zum Faktor machte – es allen beweisen, einmal noch.
Jetzt ist das vorbei. Ihren Kampf sollen andere weiterführen. Sie tauchen erst einmal ab, wörtlich gesprochen, mit Schnorchel und Brille. Nicht im Zürichsee, sondern weit weg, wo das Klima freundlicher ist und die Sicht ungetrübt. Und niemand Blödsinn redet.