Zwei neue Enthüllungen nähren den Verdacht eines aus der Ukraine gesteuerten Komplotts gegen die deutsch-russischen Gaspipelines in der Ostsee. Westliche Nachrichtendienste sollen schon früh über entsprechende Hinweise verfügt haben.
Es ist ein Ereignis wie aus einem Geheimdienstthriller. Vor gut zwei Jahren explodierten in der Ostsee mehrere Sprengsätze an den deutsch-russischen Nord-Stream-Erdgasleitungen. Seitdem spekulieren Medien weltweit darüber, wer dahintersteckt: die CIA, die Russen oder die Ukrainer? Zwei in dieser Woche veröffentlichte Recherchen des amerikanischen «Wall Street Journal» sowie eines deutschen Medienverbunds nähren den Verdacht, dass möglicherweise die Ukraine hinter dem Anschlag steckt.
Die Recherchen haben enorme politische Sprengkraft. Der Angriff auf Gasleitungen in einem europäischen Binnenmeer, die zwar umstritten waren, aber zur kritischen Infrastruktur Deutschlands zählten, kommt einem kriegerischen Akt gleich. Sollte die Ukraine dahinterstecken, hätte sie einen ihrer wichtigsten Unterstützer im Kampf gegen Russland brüskiert, mehr noch, sie würde den Kritikern dieser Hilfe in Deutschland neue Nahrung geben. Die Folgen könnten unabsehbar sein.
Daher sind die beiden Recherchen mit der nötigen Vorsicht zu betrachten. Die Detailtiefe besonders des Artikels im «Wall Street Journal» sowie die überwiegende Schreibweise im Indikativ lässt jedoch den Schluss zu, dass sich die Redaktion der renommierten New Yorker Zeitung sehr sicher zu sein scheint. Tatsächlich waren einige Aspekte bereits bekannt und fügen sich in die neuen Erkenntnisse ein.
Betrunken und in patriotischem Eifer
Schon der Beginn der Geschichte klingt gewöhnungsbedürftig. Sollte man denken, dass verdeckte Operationen von gewaltiger geopolitischer Tragweite in abhörsicheren Gebäuden von Geheim- oder Nachrichtendiensten ausgeheckt werden, dann hat man sich in diesem Fall geirrt. Eine Handvoll ranghoher ukrainischer Militärs und Geschäftsleute, schreibt das «Wall Street Journal», habe sich Anfang Mai 2022 versammelt, um die Abwehr des russischen Angriffs auf Kiew zu feiern. Betrunken und in patriotischem Eifer, heisst es, habe jemand vorgeschlagen, als Nächstes die Pipelines in der Ostsee zu zerstören. Schliesslich kassiere das Kreml-Regime durch Nord Stream Milliarden für seine Kriegskasse.
Wer den US-Autoren diese Episode berichtet hat und wo genau die Feier stattgefunden haben soll, bleibt in dem Artikel offen. Es wird ein anonymer Offizier mit dem Satz zitiert, die Sprengung der Pipelines sei «aus einer Nacht voller Alkohol und der eisernen Entschlossenheit einer Handvoll Menschen» entstanden, die «den Mut gehabt» hätten, «ihr Leben für ihr Land zu riskieren».
Sowohl das «Wall Street Journal» als auch der Medienverbund von «Zeit», ARD und «Süddeutscher Zeitung» befassen sich in ihren Artikeln auch mit der Rolle des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in dem Fall. In dem deutschen Text heisst es, es sei unklar, ob Selenski von dem Plan gewusst habe. Die Fäden seien beim damaligen Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Waleri Saluschni, zusammengelaufen.
Was wusste Selenski?
Das «Wall Street Journal» indes schreibt, Selenski habe den Plan genehmigt. Alle Absprachen seien mündlich getroffen worden. Als aber die CIA davon erfahren und ihn aufgefordert habe, «den Stecker zu ziehen», habe Selenski an Saluschni den Befehl gegeben, die Aktion zu stoppen. So hätten es ein beteiligter Offizier und drei mit ihm vertraute Personen gesagt. Saluschni indes habe die Aktion laufenlassen. Sollte die Geschichte grundsätzlich stimmen, stellt sich die Frage: Wusste Selenski davon, oder war es ein Alleingang seines Militärs? Bei der politischen Bewertung macht das vielleicht einen Unterschied.
Laut der «Wall Street Journal»-Recherche ist der Anschlag von Geschäftsleuten finanziert und von Militärs sowie Zivilisten ausgeführt worden. Die Leitung der Operation soll ein General gehabt haben, der das sechsköpfige Team zusammenstellte. Aus dem Bericht geht hervor, dass es sich bei den Teammitgliedern teilweise um Taucher mit Spezialausbildung auch für grössere Tiefen gehandelt haben soll. Die Pipelines befinden sich 80 Meter unter der Wasseroberfläche.
Sowohl das «Wall Street Journal» als auch der deutsche Rechercheverbund nennen konkrete Namen derer, die dem Sabotageteam angehört haben sollen. Demnach sei ein Oberst Roman Cherwinski dabei gewesen, gegen den in der Ukraine derzeit wegen anderer Anschuldigungen ein Prozess laufe. Dem «Wall Street Journal» gemäss befindet er sich gegen Kaution auf freiem Fuss und hat es abgelehnt, sich zum Anschlag auf Nord Stream zu äussern. Allerdings zitiert die Zeitung aus einem Rundfunkinterview, in dem Cherwinski über die «positiven Auswirkungen der Sabotage für die Ukraine» gesprochen haben soll.
Ein deutscher Haftbefehl
Das Autorenteam von «Zeit», ARD und «Süddeutscher Zeitung» wiederum sprach den Angaben gemäss mit Personen, die mutmasslich die Sprengsätze an den Leitungen angebracht haben. Dabei soll es sich unter anderem um Wolodimir S. handeln, einen ukrainischen Tauchlehrer, der bis zuletzt in Polen gelebt habe. Gegen ihn, so berichtete die «Zeit», gebe es einen Haftbefehl des Ermittlungsrichters am Bundesgerichtshof. Das hat die Behörde in Karlsruhe bisher allerdings ebenso wenig bestätigt wie die Darstellung, Polen habe das deutsche Auslieferungsersuchen ignoriert, bis Wolodimir S. untertauchen und vermutlich in die Ukraine flüchten konnte.
Was im September 2022 dann mutmasslich geschah, ist bereits vielfach berichtet worden. Das Sabotageteam mietete über eine mutmasslich ukrainische Tarnfirma in Polen eine Segeljacht in Rostock. Als sie die «Andromeda» wieder zurückgab, versäumte es die Crew offenbar, ihre Spuren zu beseitigen. Die deutschen Ermittler fanden Sprengstoffspuren, Fingerabdrücke und DNA der Besatzung, darunter neben den Spuren von Cherwinski und Wolodimir S. laut dem «Wall Street Journal» diejenigen dreier weiterer Taucher und einer Frau Mitte dreissig. Diese diente laut den Darstellungen vor allem dazu, nach aussen das Bild einer Clique auf Ferientour zu vermitteln. Laut der «Zeit» heisst sie Switlana U. und betreibt eine Tauchschule in der Ukraine.
Auf die Spur von Wolodimir S. kamen die deutschen Behörden allerdings auf anderem Wege. Er soll in der Nacht des 8. September in einem Wagen auf der Insel Rügen geblitzt worden sein, als er mit dem Sabotageteam zur Jacht fuhr. Die deutschen Journalisten wollen ihn in einem polnischen Ort ausfindig gemacht und am Telefon zur Rede gestellt haben. Dabei habe er ausgesagt, von dem Verdacht gegen ihn nichts zu wissen und an dem Anschlag nicht beteiligt gewesen zu sein.
Wie bei einem Torpedo
Am 26. September 2022 explodierten die Sprengsätze und zerstörten drei der vier Röhren von Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Obwohl der russische Krieg in der Ukraine schon ein halbes Jahr lief und die Lieferungen nach Deutschland eingestellt waren, strömte zu diesem Zeitpunkt noch immer Gas durch die Pipelines. Unter anderem Deutschland, Dänemark, Schweden und die USA entsandten Kriegsschiffe, Taucher, Unterwasserdrohnen und Flugzeuge, um das Anschlagsgebiet zu untersuchen.
Das «Wall Street Journal» berichtet, der ukrainische Präsident Selenski habe den damaligen General Saluschni zur Rede gestellt. Unter Verweis auf mehrere Quellen führt die US-Zeitung aus, Saluschni habe erklärt, sobald das Sabotageteam entsandt worden sei, habe ein Kontaktverbot bestanden. Sonst hätte die Operation gefährdet werden können. «Ihm wurde gesagt, es sei wie bei einem Torpedo: Wenn man ihn einmal auf den Feind abgefeuert hat, kann man ihn nicht mehr zurückziehen, er läuft einfach weiter, bis er ‹bumm› macht», zitiert die Zeitung einen ranghohen Offizier, der mit dem Gespräch vertraut gewesen sei.
Es erfordert langjährige vertrauensvolle Kontakte tief in die ukrainische Regierung und das Militär, um als Journalist glaubwürdige Informationen über geheime Gespräche auf dieser politischen Ebene zu bekommen. Inwiefern sie wirklich zutreffen, lässt sich von aussen nicht beurteilen. Doch einige Aspekte des Anschlags auf Nord Stream sind nicht erst auf die gegenwärtigen Recherchen zurückzuführen, sondern bereits länger bekannt.
Saluschni weiss angeblich von nichts
So berichteten «Zeit», ARD und «Süddeutsche Zeitung» bereits im vergangenen Jahr über Hinweise vonseiten des niederländischen Militärnachrichtendienstes (MIVD), der die deutschen Ermittler auf die Spur der «Andromeda» gebracht habe. Nun heisst es, dass die Niederländer bereits vor dem Anschlag die CIA und die CIA wiederum die deutschen Behörden vor der Sabotageaktion gewarnt haben sollen. Das geht auch aus der Recherche des «Wall Street Journal» hervor.
Was sagt nun Waleri Saluschni, der Hauptbeschuldigte der Recherchen? Anfang Februar hatte ihn Selenski als Oberbefehlshaber abgelöst und dies mit der «notwendigen Erneuerung der Streitkräfte» begründet. Heute ist Saluschni ukrainischer Botschafter in London.
Dem «Wall Street Journal» gemäss habe er auf die Vorwürfe hin geäussert, nichts von einer solchen Operation zu wissen. Jede andere Andeutung sei «reine Provokation». Die ukrainischen Streitkräfte seien nicht befugt, Einsätze im Ausland durchzuführen. Er sei daher nicht beteiligt gewesen. Ähnlich, so die amerikanische Zeitung, habe sich auch ein Vertreter des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes (SBU) ausgedrückt.







