Die Globalisierung ist in Verruf geraten: Protektionismus und Industriepolitik stärken die Wirtschaft – sagen jene Politiker und Firmen, die selbst davon profitieren. Wahr ist das Gegenteil.
Wahrscheinlich sind Sie sich dessen nicht bewusst, aber Ihre neue Multifunktions-Wetterstation für 24 Franken gefährdet die nationale Sicherheit. Ebenso das Set mit den sonst unverschämt teuren Ersatzköpfen für die Elektrozahnbürste, für das Sie aber nur 6 Franken bezahlt haben. Denn Sie haben diese Sachen in China gekauft, über die App Temu.
So wie Tausende Schweizer setzen Sie damit ein Zeichen: für die Globalisierung. Das Shopping-Portal Temu produziert in chinesischen Fabriken erst auf Bestellung der Kunden, nicht auf Vorrat. Das ist Globalisierung auf Steroiden. Doch vernetzter Welthandel ist ein Risiko, zumindest in den Augen von immer mehr Politikern und Unternehmern im Westen. Kein Wunder, werden in Europa sogar Rufe nach einem Verbot von Temu laut.
Der Welthandel hat seinen guten Ruf verloren
Die Globalisierung gilt den Kritikern als Bedrohung, die zurückgedrängt werden muss, um Stabilität und Wohlstand zu garantieren. Dabei ignorieren die wirtschaftlichen Heimatschützer, welche Vorteile und Chancen freie und verbundene Märkte bieten – und dass sie viel mehr Sicherheit gewähren, als sie zugeben wollen.
Ein Paradigmenwechsel findet statt. Lange Zeit entwickelte sich der Welthandel scheinbar mühelos und selbstverständlich vorwärts. Die Globalisierung hat in den vergangenen drei Dekaden den Warenaustausch und die Arbeitsteilung befördert und das Einkommen von Millionen Menschen verbessert, gerade in den ärmeren Ländern. Die nun aufbrechenden Gräben zwischen den USA, China und der EU bedrohen diesen Erfolg. Handelsstreit und Abschottung schaffen keinen Wohlstand. Sie gefährden ihn.
Ebenso tun es die Versuche, mit nationaler Industriepolitik, Schutzzöllen und Subventionen jene Branchen zu fördern und zu schützen, die für die Zukunft eines Landes vermeintlich unerlässlich sind. Doch diese Wahrheit ist selten zu hören – erst recht im globalen Wahljahr 2024. Weltweit stehen rund achtzig Urnengänge an, unter anderem in den USA und in Indien. Forderungen nach Abschottung gehören zum Pflichtprogramm im Wahlkampf.
Auch viele Konzernchefs scheuen diese Wahrheit. Sie zählen zu den Profiteuren der Industriepolitik. In den USA lockt Präsident Joe Biden mit Fördertöpfen von fast tausend Milliarden Dollar. Holcim, der weltgrösste Baustoffkonzern, spaltet sein Nordamerikageschäft vollständig ab, um die Einheit ganz auf die dortige Industrieförderung auszurichten. Björn Rosengren, der Chef von ABB, beschwert sich anhaltend über das Zögern Brüssels, es Washington mit gleich grosser Kelle nachzutun. Dabei ist auch der europäische «Green Deal» nicht schlecht dotiert.
Ein Unternehmen spricht nicht für ein Land
Internationale Unternehmen stehen Schlange, um mit dem Geld der amerikanischen Steuerzahler Produktionsstätten in der weltgrössten Volkswirtschaft zu errichten. Aus Sicht der Firmen ist das legitim. Aber die Öffentlichkeit sollte nicht den Fehler machen, die Wünsche eines Unternehmens automatisch mit der Stimme der wirtschaftlichen Vernunft gleichzusetzen.
Auch in der Schweiz wird diskutiert. In der Waadt wollen Nationalräte die Schliessung der letzten Glasflaschenfabrik des Landes verhindern. Das Unternehmen Vetropack plant, das Werk mit 180 Arbeitsplätzen stillzulegen. In Solothurn schliesst Stahl Gerlafingen Ende Mai eine der beiden Produktionsstrassen; rund 95 Jobs gehen verloren. Befürworter eines Rettungspakets proklamieren, die Stahlindustrie sei systemrelevant.
Daraus lassen sich zwei Dinge lernen: Erstens muss es der Schweizer Industrie recht gut gehen, wenn nur um den Erhalt von Stahl und Glas gekämpft wird. Beides sind Produkte, bei denen sich Schweizer Unternehmen nicht genug durch höhere Qualität differenzieren können, um die höheren Verkaufspreise zu rechtfertigen, die ihnen hierzulande von den höheren Kosten diktiert werden.
Wo hingegen eine Differenzierung vom Rest der Welt möglich ist, etwa im Maschinenbau und der Medizintechnik, steht es besser um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Firmen. Dort können sie sich dank ihrer Innovationskraft gut behaupten. Die mussten sie gerade deshalb entwickeln, weil es keine schützende Industriepolitik gab.
Industriepolitisches Wettrüsten nützt keinem
Zweitens ist die Schwäche des Schweizer Stahls – neben Stahl Gerlafingen hat auch Swiss Steel grosse Probleme – auch auf eine Marktabschottung der EU zurückzuführen. Und auf dortige Subventionen, etwa in Form günstiger Energie. Doch wenn mit einer eigenen Förderung auf die Förderung der Gegenseite geantwortet werden soll, drohen eine Spirale und ein industriepolitisches Wettrüsten. Die Steuerzahler beider Seiten zahlen mehr als nötig, um Produkte zu erhalten, die sie woanders günstiger bekommen könnten.
Partikularinteressen von Unternehmen dürfen nicht mit den Interessen der Allgemeinheit verwechselt werden. Die Flut günstiger chinesischer Solarzellen treibt mit grossem Tempo die Energiewende in Europa voran. Ebenso die günstigen chinesischen Elektroautos. Sie sprechen eine preisbewusste Kundschaft an, welche die europäischen Autohersteller zu lange ignoriert hatten.
Dass der chinesische Staat diese Branchen mit enormen Summen subventioniert, sollte kein Anlass für die Europäer sein, mit eigenen Subventionen dagegenzuhalten. Ohne offene Handelswege ist der Kampf gegen den Klimawandel nicht zu gewinnen.
Die Furcht vor Chinas «Überproduktion», wie EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen es nennt, dominierte in dieser Woche auch den Besuch von Präsident Xi Jinping in der alten Welt. Doch trotz allen Drohungen mit europäischer Wirtschaftsverteidigung war ein Unbehagen zu spüren: China braucht den europäischen Markt, und europäische Firmen können nicht über Nacht ihre Milliardeninvestitionen aus dem Reich der Mitte abziehen. Es bedarf der Kooperation.
De-Coupling, De-Risking, Nearshoring, strategische Autonomie und globale Resilienz: Protektionismus und subventionsreiche Industriepolitik verstecken sich hinter einer Fülle von Euphemismen. Die Schalmeienklänge tönen umso süsser, je drohender die geopolitischen Konflikte erscheinen. Die USA gegen China, China gegen Taiwan, Russland gegen die Ukraine und den Westen, Indien für sich selbst und Europa zwischen den Stühlen.
Firmen müssen dazulernen – und selbst entscheiden
Doch es ist nicht Aufgabe der Politik, den Firmen die Hausaufgaben abzunehmen. Risikomanagement ist die ureigene Pflicht von Unternehmen. Die ganze Produktion von einem Zulieferer abhängig zu machen, war nie eine gute Idee. Auch nicht, die eigene Wettbewerbsfähigkeit an günstige Energie aus Russland zu ketten, so wie es Teile der deutschen Industrie taten.
Beim Risikomanagement gilt es, ein gesundes Mittelmass zu finden. Vorsorge kostet Geld. Wenn Konzerne Parallelstrukturen in verschiedenen politischen Blöcken aufbauen müssen, zerstört das Synergien. Wenn Unternehmen ihre Lager so weit aufstocken müssen, dass sie auch für die unwahrscheinlichsten Eventualitäten gerüstet sind, bindet das viel Kapital. All dieses Geld fehlt dort, wo es für die Zukunft der Firma gebraucht wird – etwa bei Forschung und Entwicklung.
Unternehmen müssen abwägen, wo sie ihr Kapital am besten einsetzen. Aus den jüngsten Verwerfungen lässt sich einiges lernen. Das Lernen kann und soll ihnen der Staat nicht abnehmen. Stellen sich die Firmen stabil auf, ist automatisch auch der nationalen Sicherheit Genüge getan. Die Regierungen können sich auf die wenigen Sicherheitsbereiche beschränken, für die sie tatsächlich zuständig sind, zum Beispiel den Aufbau vernünftig ausgestatteter und trainierter Streitkräfte.
Die Lieferketten waren während Corona viel flexibler, als oft dargestellt wird. Sie können sich am besten anpassen, wenn ihnen die Politik keine Steine in den Weg legt. Als das russische Erdgas zur Versorgung der deutschen Industrie wegfiel, orientierten sich die Unternehmen neu und schufen Infrastruktur, um verflüssigtes Erdgas (LNG) zu beziehen. Das war mühsam und teuer, aber die Transformation gelang.
Temu hat eine Chance verdient
Wo Branchen von staatlicher Planung dominiert sind, etwa die Munitionsbeschaffung für den Abwehrkrieg der Ukraine, stockt die Versorgung bis heute. Natürlich hatte die Pandemie das internationale Transportwesen erheblich gestört. Aber dies auch deswegen, weil sich die Nachfrage in den Gütermärkten stark verschob, während eine durch Lockdowns gehemmte Produktion und Logistik nicht adäquat reagieren konnte.
Eine internationale Arbeitsteilung, die auf den jeweiligen Stärken einer Volkswirtschaft beruht, behält trotzdem ihre Relevanz. Es ergibt keinen Sinn, wenn sich jeder aus dem eigenen, eingezäunten Gärtchen versorgen will. Nur in einer offenen Welt setzt sich die beste Lösung durch. Das muss nicht zwangsläufig die billige Wetterstation von Temu sein. Aber Temu sollte es versuchen dürfen.