Im Gruppenspiel an der EM geht es darum, wer Gruppenerster wird. Und um mögliche Empfindlichkeiten.
Fröhlich sind beide: Die Qualifikation f¨ür den Achtelfinal haben sowohl Deutschland als auch die Schweiz geschafft.
Der bisherige Turnierverlauf hat es gut gemeint mit den Schweizern und den Deutschen: Wenn sich am Sonntagabend in Frankfurt die beiden Teams im dritten Gruppenspiel gegenüberstehen, geht es nicht mehr ums Weiterkommen, sondern eigentlich nur noch um den ersten Platz. Gewinnen die Schweizer nicht, dürfen sie hoffen, am nächsten Samstag im Achtelfinal in Berlin Italien begrüssen zu dürfen. Die Deutschen bekommen einen Gruppendritten als Gegner. Also: Auf geht’s, es wartet ein schöner Kick, aus Lust an der Freude!
Oder etwa doch nicht ganz? Man weiss es ja aus dem Leben: Tritt der grosse Bruder gegen den kleinen Bruder an, kommt es meist schneller als gedacht zu Getrieze und Balgerei. Das lässt sich nicht so einfach wegschieben. Auch nicht mit der Aussicht, dass nach dem Spiel für beide die gleich grosse Portion Pommes bereitsteht. Zwischen kleinem und grossem Geschwister geht es um Unterschwelliges. Beide kennen ihre Schwächen und Stärken auswendig, beide wissen um die grossen Triumphe, kleinen Fehler und stummen Geheimnisse des anderen. Ätsch!
Grosszügiger Respekt vom Grossen für den Kleinen
Deshalb gilt es Obacht zu geben auf mögliche Empfindlichkeiten. Wer hat zuletzt mehr Achtelfinals erreicht? Schaut her, es sind die kleinen Schweizer! Sechs Mal in Folge haben sie das geschafft. Nur einmal gelang ihnen mehr, als sie 2021 in Bukarest den damaligen Weltmeister Frankreich bodigten. Sonst blieben sie immer artig im Mittelmass stecken und reisten nach vier Spielen wieder heim. Der grosse Bruder Deutschland aber musste an den Weltmeisterschaften in Russland und in Katar schon nach drei Spielen wieder in den Flieger steigen, kläglich und bitter. Aber jetzt ist alles ganz anders.
Weil es nicht mehr ums Ausscheiden geht, können sich die grossen Deutschen in mildem Grossmut ergehen. Ein so kleiner Nachbar mit einer so guten Mannschaft – Respekt. Zwar nie mittendrin, aber stets dabei. Und von wem haben die Schweizer gelernt? Vom grossen Bruder natürlich, fast alle Spieler waren oder sind in der Bundesliga. Da darf sich niemand wundern, dass sie gut sind. Aber leider nicht gut genug, um Europameister zu werden. Das wird nämlich Deutschland. Noch Fragen?
Als kleiner Bruder lässt man sich zwar nicht einschüchtern. Nur heimlich wundert man sich, wie gönnerhaft und breitspurig in Deutschland der Deutsche spricht, wenn es um Fussball geht. Nichts kann klein genug sein, um in Übergrösse auf das Geviert des grünen Rasens projiziert zu werden. Kaum reckt Antonio Rüdiger den Finger in die Luft, droht die Errichtung eines salafistischen Kalifats. Changiert das Auswärtstrikot zwischen zartem Rosa und bläulichem Violett, herrscht LGBTQ+-Alarmstufe Rot. Gibt Ilkay Gündogan dem türkischen Präsidenten die Hand, stehen osmanische Räuberhorden an den deutschen Grenzen. Faszinierend.
Gut, als kleiner Bruder hat man ja auch so seine Erfahrungen gemacht in dieser Richtung. Früher gab es in der Nationalmannschaft den Röstigraben wegen der Zweisprachigkeit. Oder die Geste mit den flatternden Fingern für den Doppeladler der Albaner. Auch beim Hochhalten des Trikots von Ardon Jashari kam es zu allerlei Grübeleien, ob der Nachname des Spielers etwas mit dem kosovarischen Freiheitskampf zu tun hat. Item. Deswegen wurde die kleine Schweiz nicht in den Grundfesten erschüttert. Was auf dem Platz passiert, bleibt auf dem Platz oder rutscht unter den Tisch. Beim grossen Bruder ist das anders.
Wenn die Deutschen einen Titel gewinnen, haben sie nicht nur ein Turnier gewonnen, sondern ihr Land verändert. Deshalb ist es dem grossen Bruder so wichtig, dass er auch jetzt wieder siegt. Der Sänger Herbert Grönemeyer sagte vor dem Turnier, weshalb: «Die Menschen hungern nach Belebung. Nun gilt es, die Politik aufzuwecken.» Wie 1954, als der WM-Titel in Bern das Wirtschaftswunder entfachte und den Zweiten Weltkrieg vergessen machte. Wie der WM-Sieg 1990, als die Wiedervereinigung laut Franz Beckenbauer Deutschland «für Jahrzehnte unschlagbar» machte. Das ist zwar schon eine Weile her, aber es ist auch heute noch wichtig für die Geschwisterliebe.
Nagelsmann ist laut und deutlich, Yakin still und verschwiegen
Als kleiner Bruder möchte man den grossen Bruder ja bewundern dürfen. Auch dafür, dass er in der Vergangenheit so viele Titel und Trophäen gewonnen hat und in Zukunft nichts anderes im Sinn hat, als noch mehr Titel und Trophäen zu gewinnen. Vorbilder sind wichtig, soll der Kleine auch einmal etwas Grosses vollbringen, wie das der deutsche Trainer Julian Nagelsmann mit seinen Spielern momentan im Begriffe ist zu vollführen. Nagelsmann hat einen klaren Plan, er redet schnell und präzis, Angriffe pariert er mit schlauen Kontern.
Zu sehr sollte man sich allerdings nicht beeindrucken lassen. Als kleiner Bruder muss man auch einen eigenen Weg ins Leben finden. In diesem Sinn macht das Murat Yakin als Schweizer Trainer auf seine eigene Weise. Er ist eher ruhig, redet eher nicht so viel und ist eher verschwiegen, wenn es um seine Pläne geht, wie er mit seinen Spielern den grossen deutschen Bruder überlisten will. Die Achtelfinalqualifikation ist ohnehin geschafft. Am Sonntag bleibt der schöne Kick.
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