Die Tennissaison endet in Turin mit dem achten Titel von Jannik Sinner. Doch der Schatten des Dopings hängt weiter über ihm.
Die Tennis-Saison 2024 endet so, wie sie vor zehn Monaten im australischen Hochsommer begonnen hat: Mit einem grossen Sieg von Jannik Sinner. Der 23-jährige Italiener gewann am Sonntagabend an den ATP-Finals in Turin auch den letzten Titel des Jahres, seinen achten in dieser Saison. Im letzten Spiel bezwang er den Amerikaner Taylor Fritz mit 6:4, 6:4.
Sinner glückte damit eine Saison, wie sie vor ihm allenfalls Novak Djokovic, Roger Federer oder Rafael Nadal gelungen ist. Er feierte am Sonntag seinen 70. Sieg, verloren hat er nur sechs Partien. Sinner könnte damit von einer perfekten Saison sprechen – wenn da nur die Doping-vorwürfe nicht wären. Im Sommer wurde publik, dass er im Frühjahr in Indian Wells und kurz darauf bei einer Trainingskontrolle zweimal positiv auf das Steroid Clostebol getestet worden war. Gesperrt wurde er jedoch nicht.
Offenbar konnte sein Umfeld den Antidopingbehörden schlüssige Beweise vorlegen, dass die verbotene Substanz über die Hände des Physiotherapeuten in den Blutkreislauf des Tennisspielers gelangt ist. Ein unabhängiges Gericht sprach Sinner frei. Doch die Welt-Anti-Doping-Agentur akzeptierte den Befund nicht und legte Ende September beim internationalen Sportgericht TAS in Lausanne Berufung ein.
Allzu sehr liess sich Sinner nicht aus dem Tritt bringen. Vor seinem euphorisierten Heimpublikum in Turin gab er letzte Woche keinen einzigen Satz ab und holte damit nach, was er vor einem Jahr im Final gegen Novak Djokovic noch verpasst hatte.
Für Sinner gab es ein Preisgeld von 4,88 Millionen Dollar und er baute seinen Vorsprung in der Weltrangliste weiter aus. Er liegt mehr als 3000 Punkte vor dem zweitklassierten Alexander Zverev, was beinahe dem Gegenwert von zwei Grand-Slam-Titeln entspricht. 2024 ist das Jahr von Sinner, wenn da eben der Dopingverdacht nicht wäre. Bis das TAS seinen Schiedsspruch verkündet hat, muss er unter Vorbehalt feiern.
Die Helden kommen und gehen schnell
Und was gab es sonst in dieser Saison? Den ersten Titel in Brisbane hatte der Bulgare Grigor Dimitrow gewonnen. Kurz darauf begann in Melbourne der Lauf Sinners. Nur: Gut möglich, dass dessen Dominanz eine Momentaufnahme ist. Man denke dabei an das Beispiel von Carlos Alcaraz: Bis vor kurzem schien der Spanier beinahe unschlagbar und der Mann der Zukunft zu sein, er hat heuer wie Sinner zwei Major-Titel gewonnen (in Paris und Wimbledon). Mittlerweile ist Alcaraz im Ranking auf Platz 3 zurückgefallen.
Die Helden kommen und gehen schnell im Männer-Tennis. Innerhalb von nicht einmal elf Monaten jagen sich 62 mehr oder weniger wichtige Turniere. An der Spitze dieser Pyramide stehen die vier Majors in Melbourne, Paris, Wimbledon und New York. Dazu kam in diesem Sommer das olympische Turnier, das wie Roland-Garros auf den Sandplätzen im Pariser Bois de Boulogne stattfand.
Diese Flut von Turnieren produziert den einen und anderen Sieger – und ganz viele Verlierer. Und einer der Absteiger der Saison ist mit Novak Djokovic ein Spieler, der bis vor kurzem die Titel noch gesammelt hatte wie andere Treuepunkte beim Detailhandels-Grossisten.
Der Serbe begann die Saison an der Spitze des Rankings, im Juni musste er die Führung nach insgesamt 428 Wochen als Nummer 1 an Sinner abgeben. Mit 38 Siegen bei 10 Niederlagen war Djokovic 2024 gemessen an seiner Gewinnquote noch die Nummer 19 der Welt. Den einzigen Titel errang er Anfang August am Olympia-Turnier. Immerhin schloss er dort die einzige Lücke, die er in seinem grossartigen Palmarès noch hatte.
Djokovic ist 37 Jahre alt und strebt damit dem Ende seiner Karriere entgegen. In Turin fehlte er in den letzten Tagen – offiziell wegen einer kleinen Verletzung. Wahrscheinlich hat er aber auch eingesehen, dass ihm eine Pause besser tut als ein Einsatz an jenem Turnier, das er bereits siebenmal gewonnen hat.
Damit fand das Saisonfinale erstmals seit 2001 ohne einen Spieler der so genannten «Big Three» statt, die aus Djokovic, Nadal und Federer bestanden. Und Djokovic sagte in schonungsloser Offenheit: «Was mich betrifft, so bin ich mit diesen Turnieren in meiner Karriere fertig.»
Er will sich im Spätherbst seiner Karriere auf die Grand Slams und den Davis Cup konzentrieren. Damit ist im Männer-Tennis endgültig eine neue Ära angebrochen. Während Jahren hat man von dieser gesprochen, doch irgendwie wurde ihr Beginn immer wieder hinausgeschoben. Djokovic ist heute 24-facher Grand-Slam-Sieger, er teilt sich diesen Rekord mit Margaret Court. Ob er doch noch zum alleinigen Rekordsieger aufsteigt, wird mit jeder verpassten Gelegenheit unwahrscheinlicher.
Djokovic hat immer mehr zu kämpfen
Am grössten ist seine Chance wohl am Australian Open. In Melbourne hat der Serbe bereits zehnmal den Titel gewonnen, erstmals 2008. Im letzten Januar dann leitete dort eine Niederlage im Halbfinal gegen Sinner das ein, was für ihn zu einer Art Seuchenjahr wurde. Im Frühjahr trennte er sich von seinem langjährigen Begleiter Goran Ivanisevic. Seither kämpft Djokovic mit sich und seiner Motivation.
Deshalb drängt sich die Frage auf: Wie viel Kraft ist in seinem Körper noch übrig? Reicht sie, um noch einmal den langen Weg über sieben Fünf-Satz-Partien zu gehen, die es für den Titel an einem Major-Turnier allenfalls braucht? Früher oder später wird er dabei seinen beiden grössten Herausforderern begegnen: Carlos Alcaraz oder Jannik Sinner.
Sinner ist zu so etwas wie der Nemesis von Djokovic geworden. Im Direktduell steht es nach Siegen 4:4, und drei der letzten vier Begegnungen gingen an Sinner, in diesem Jahr neben dem Viertelfinal in Melbourne auch der Final des Masters-1000-Turniers in Schanghai. Seither ist Djokovic nur noch an der hoch dotierten Six-Kings-Exhibition in Riad angetreten – wo er (in einem allerdings bedeutungslosen Match) ebenfalls an Sinner scheiterte.