Auch ans Training im Gym erinnern sich Muskeln. Aber Achtung: Ab dem 35. Lebensjahr schwindet wichtige Hirnmasse. Und weshalb Senioren grössere Trainingspausen vermeiden sollten.
Lernen lohnt sich. Vor allem physisches Lernen lohnt sich. Denn wer eine Bewegung gemeistert hat, profitiert sein ganzes Leben davon und kann das Erlernte – Unfälle oder Krankheiten ausgeschlossen – nie wieder vergessen. Egal, ob Velofahren, Schlittschuhlaufen oder Skifahren, Schwimmen, Skaten oder Surfen: Das Muskelgedächtnis vergisst nicht.
Wobei, ganz richtig ist das nicht. Denn was landläufig als Muskelgedächtnis bekannt ist, ist in Wirklichkeit das motorische Gedächtnis. Die Koordination von Feinfühligkeit und Stärke verankert unser Körper in unserer Hirnstruktur und nicht in den Muskelzellen. Die Muskelzellen selbst haben trotzdem ein Erinnerungsvermögen – nur anders als gedacht. Doch dazu später mehr.
«Wenn jemand eine Bewegung erlernt hat, ist sie im Langzeit-, genauer im prozeduralen Gedächtnis, gespeichert», sagt Claudia Voelcker-Rehage, Professorin für Neuromotorik und Training an der deutschen Universität Münster. «Jeder Gedächtnisinhalt, zum Beispiel ein Aufschlag im Tennis, ist in Form synaptischer Verbindungen zwischen Nervenzellen gespeichert.»
Für passioniert lernende Sportler ist das phantastisch. Es gibt jedoch eine kleine Einschränkung. «Synaptische Verbindungen, die benutzt werden, sind stärker ausgebildet als jene, die man nicht abruft», sagt Voelcker-Rehage.
Soll heissen: Es braucht ein wenig, bis die alte, fulminante Qualität im Tennis-Aufschlag nach zehn Jahren Pause zurückkommt, meist Tage oder Wochen, manchmal aber auch nur Stunden. In jedem Falle geht es weitaus schneller, als wenn es gilt, eine Bewegung neu zu erlernen.
Und wehe dem, der eine falsche Bewegung eingeschliffen hat und sie nachträglich verbessern möchte. Denn alte Bewegungen mit etwas Neuem, aber Ähnlichem zu überspielen, erweist sich als hochgradig schwierig.
Fahrradfahren, aber wissenschaftlich
In einer jüngst veröffentlichten Studie versuchten amerikanische Forscherteams der University of Southern California, diese Situation zu simulieren, indem sie Probanden Fahrrad mit spiegelverkehrter Lenkstange fahren liessen. Das Vorderrad bog also nach links ein, wenn die Lenker nach rechts wendeten, und umgekehrt.
Die Erfahrung von gut 25 Radlern, die das erste Mal auf solch ein Velo stiegen, wurde in mehreren Testphasen anhand eines kurzen Parcours sowie der Schwingungen der Lenkstange vermessen. Erwartungsgemäss kam es zu vielen Stürzen, aber auch Verbesserungen bei den meisten Teilnehmern. Stiegen diese zwischendurch wieder auf ein normales Fahrrad, waren ihre Fertigkeiten auf dem Rad jedoch nicht so gekonnt wie zuvor und passten sich erst mit der Zeit an. Einige stürzten auch in dieser Phase. Es kam, so die Forscher, zu «Interferenzen».
Die Wissenschafter schlossen daraus: Das Meistern des umgekehrten Fahrrads erforderte das «Verlernen» des normalen Fahrradfahrens. Bis eine neue, ähnliche Bewegung gemeistert sei, gebe es eine Phase, in der sowohl die alte als auch die neue Fähigkeit schlechter funktionierten.
Das wirkliche Radeln verlernten die Probanden im Übrigen nie. Sie waren nur phasenweise unsicherer und ungeschickter. Die Wissenschafter gliederten ihre Forschung in die Theorie des New Yorker Neurowissenschafters Daniel Wolpert ein. Nach dieser lernt das Gehirn, eine bestimmte Bewegung mit der Umgebung zu verknüpfen. Deswegen könne man sowohl Squash, Badminton als auch Tennis lernen, ohne dass sich Bewegungsmuster gegenseitig blockierten. Anders beim Rad-Test der kalifornischen Forscher. Sie legten Wert darauf, die Umgebung absolut gleich zu halten.
Für Trainierende kann das bedeuten: Wer etwa seinen Tennis-Aufschlag aufdatieren will, der sollte es in einer neuen Umgebung auf einem neuen Platz oder Belag versuchen.
Der präfrontale Kortex macht Kinder zu Bewegungskünstlern
Eine grosse Rolle beim Bewegungslernen spielt die Hirnregion des präfrontalen Kortex. «Unwichtige Informationen müssen beim Lernen ausgeblendet werden. Die Region hilft, die Aufmerksamkeit besser und gerichteter zu lenken», sagt die Neuromotorikforscherin Voelcker-Rehage. Das bedeute auch, dass vor allem sehr junge und sehr alte Menschen schlechter lernten. «Der präfrontale Kortex ist die Hirnregion, die sich als letzte ausbildet – und sich als erste wieder zurückbildet.»
Formiert sich diese Region in jungen Jahren zum allerersten Mal, führt dies dazu, dass Kinder und Jugendliche ihre Aufmerksamkeit gezielter steuern, sich Arbeitsanweisungen besser merken und ihre Arbeitsschritte besser planen können. Mit anderen Umbauprozessen im Gehirn sorgt dies dafür, dass ältere Kinder und Jugendliche rascher neue Bewegungen erlernen als in ihren jüngeren und in ihren späteren Jahren.
Grundsätzlich kann man jedoch in jedem Alter neue Bewegungen meistern, solange die neuronalen Prozesse funktionieren und die physische Fitness es hergibt. Auch mit 70 Jahren lassen sich das Surfen oder das Skaten neu erlernen und die Tricks auf den Boards im Langzeitgedächtnis speichern. Das ist nicht nur beeindruckend, sondern auch gesund fürs Gehirn.
Denn ab dem 35. Lebensjahr, so die Forschung, schwindet die Hirnmasse im für die motorische Neubildung so wichtigen präfrontalen Bereich jährlich um etwa 0,2 Prozent; ab dem 60. Geburtstag sogar um rund 0,5 Prozent. Ein geeignetes Mittel, um dem Schwund dieser wichtigen Aufmerksamkeits-Neuronen im Gehirn entgegenzuwirken, sind Sport und das Erlernen neuer Fähigkeiten.
Ist eine Bewegung erst einmal synaptisch im prozeduralen Bereich gespeichert, braucht es kaum mehr die präfrontalen Bereiche. «Diese kognitiven Ressourcen, die es vorher zum Lernen brauchte, sind dann frei für andere Dinge», sagt Voelcker-Rehage. «Man kann also währenddessen parallel über anderes nachdenken.» Das sogenannte Muskelgedächtnis sitzt also eigentlich im Gehirn.
Auch Muskelzellen erinnern sich – an alte Stärke
Neuere Forschung zeigt jedoch, dass auch Muskelzellen eine Art Gedächtnis haben. Das Stichwort heisst Epigenetik: Umwelteinflüsse, die sich auf die DNA der Zellen langfristig auswirken. «Wenn man trainiert hat, wird die DNA in bestimmten Regionen auf verschiedenen Genen durch Stoffwechselprodukte modifiziert», sagt Adam Philip Sharples, Professor für molekulare Physiologie und Epigenetik an der norwegischen Sporthochschule in Oslo. «Das bedeutet, dass Sequenzen der DNA freigeschaltet werden.» Somit erlangen die Muskelzellen eine neue Fähigkeit: Sie erinnern sich an Trainingsbelastung.
Sharples setzte in mehreren Studien Probanden einem Rhythmus aus etwa dreimonatlichem Hochintensiv- oder Krafttraining und Untätigkeit aus, dem wieder Training folgte. Die Muskeln der Teilnehmer wuchsen und schrumpften entsprechend. «Ihre DNA vergass in gewisser Weise nicht, dass sie vorher trainiert worden war», sagt Sharples. Die epigenetischen Modifikationen sorgten dafür, dass die Muskelzellen nach einer langen Trainingspause schneller und mehr anwuchsen, wenn man sie dem gleichen Trainingsreiz erneut aussetzte.
Der Effekt sei bei jungen Menschen stärker, so Sharples – und er hat bei älteren Menschen sogar eine Kehrseite. «Der junge Muskel hat ein positives Gedächtnis gegenüber Muskelschwund. Er schützt sich sozusagen davor», sagt Sharples. Hat ein junger Mensch also einmal Muskeln ab- und wieder aufgebaut, sorgt die Epigenetik dafür, dass ein erneuter Muskelschwund möglichst vermieden wird. «Alte Muskeln haben dagegen eine Art negatives Gedächtnis: Beim zweiten Mal wird der Muskelschwund noch schlimmer.» Senioren sollten also grössere Trainingspausen möglichst vermeiden.
Doch auch Ältere können vom Gedächtnis der Muskelzellen profitieren: «Durch erneutes Training können Muskeln eines alten Menschen in Richtung der DNA-Signatur jüngerer, trainierter Menschen zurückgeführt werden», so Sharples. «Training ist also ziemlich wirkungsvoll, wenn es darum geht, die epigenetische Uhr zurückzusetzen.»
Für diesen Effekt empfiehlt der Wissenschafter vor allem Hochintensiv- und Kraftsport. Am wichtigsten sei jedoch überhaupt durchgängige Bewegung und Training: Sowohl das Gedächtnis der Zellen im Arm als auch jenes der Zellen im Kopf belohnen das ein Leben lang.