In Oberrieden müssen die Kleinsten den Weg zum Mittagstisch seit Weihnachten selber bewältigen. Das gefällt nicht allen – zumal im Herbst ein kleines Mädchen überfahren wurde und zu Tode kam.
Die Wege in Oberrieden sind mitunter lang und steil. Die Gemeinde am linken Zürichseeufer liegt am Hang des Zimmerbergs, und das bekommen bereits die Kleinsten im Ort zu spüren: Kindergärtler vom Kindergarten im Boden zum Beispiel, die eine 900 Meter lange Strecke hinauf zum Hort am Langweg bewältigen müssen, um dort zusammen mit anderen Kindern zu Mittag zu essen.
Und am Nachmittag dieselbe Strecke wieder zurück. Und dann wieder den Berg hinauf, falls sie nach dem Kindergarten am Nachmittag ebenfalls im Hort betreut werden sollen.
Darf man es den Vier- bis Sechsjährigen zumuten, diesen langen Weg zu gehen quer durchs Dorf? Womöglich ganz allein oder zusammen mit zwei, drei weiteren Kindern im gleichen Alter?
Lotsen geleiten Kinder über die Strasse
Seit den Weihnachtsferien sorgen diese Fragen wieder vermehrt für Gesprächsstoff unter Eltern in Oberrieden. Eine Mutter sagte in einem Bericht der Tamedia-Zeitungen vom Montag: «In dem Alter ist ein solcher Weg doch einfach nur gefährlich.»
Die Aufregung ist verständlich. Im Dorfzentrum von Oberrieden wurde Anfang September ein fünfjähriges Mädchen auf einem Fussgängerstreifen von einem Kehrichtfahrzeug erfasst und tödlich verletzt. Die Kindergärtlerin war von einem anderen Kindergarten unweit der Unfallstelle unterwegs nach Hause.
Die Gemeinde reagierte. Zu Schulzeiten wird der Fussgängerstreifen im Zentrum von Lotsen überwacht. Die Männer und Frauen in orangen Anzügen sorgen dafür, dass Kindergärtler und andere Passanten sicher und für alle sichtbar auf die andere Strassenseite gelangen. Eine Verkehrsinsel gibt es an dieser Stelle schon seit Jahren. Der Lotsendienst werde bis auf weiteres fortgeführt, sagt Martin Eichenberger, parteiloser Gemeinderat für Soziales und Sicherheit, am Montag gegenüber der NZZ.
Eine Dauerlösung sei dieses Regime jedoch nicht. «Vielleicht müssen wir über ein Rotlicht oder eine Überführung nachdenken», sagt Eichenberger. Er weiss: Das Thema Sicherheit auf Schulwegen bewegt die Bevölkerung.
Amtlich bewilligte Route
Allerdings werden in dieser emotionalen Debatte Themen vermischt, die nur bedingt miteinander zu tun haben. Die Unfallstelle vom September liegt nicht auf jener Route, die die erwähnte Mutter als «einfach nur gefährlich» kritisiert. Die Sorge der Frau dürfte vielmehr daher rühren, dass Vierjährige den Weg vom Kindergarten zum Hort und zurück seit den letzten Ferien allein gehen müssen.
Denn: In Oberrieden werden Kinder des ersten Kindergartens nur bis Weihnachten vom Schul- oder Betreuungspersonal begleitet, wenn sie zwischen Kindergarten und Hort hin- und herwechseln. Mehr noch: Die erwachsenen Begleiter der kleinen Kindergärtler ziehen sich in diesen ersten Monaten mehr und mehr zurück. «Wir wollen die Kinder befähigen, den Weg selber zu gehen», sagt Janek Lobmaier, der Schulpräsident von Oberrieden.
Hinzu kommt: Ein gerade für kurze Beine recht langer Weg bedeutet nicht automatisch, dass diese Route besonders gefährlich ist. 2019 hat Oberrieden den Weg zwischen dem Kindergarten unten im Dorf und dem Hort am Hang eigens von einem Verkehrsinstruktor der Kantonspolizei inspizieren lassen. Die Gemeinde wollte die sicherste Route für Kindergärtler ausfindig machen.
Das Resultat dieser Begehung: Hauptstrassen müssen die Kinder keine überqueren. Die Strasse, auf der das Mädchen im September zu Tode kam, können sie an einer anderen Stelle durch eine Unterführung passieren. Ihr Weg zwischen Kindergarten und Hort führt ausschliesslich durch Tempo-30-Zonen beziehungsweise Fusswegen entlang. Der Verkehrsinstruktor hat ihn als ungefährlich eingestuft. Die Distanz von 900 Metern gilt gemäss Empfehlungen der Beratungsstelle für Unfallverhütung als zumutbar, wie die Schule Oberrieden auf ihrer Website schreibt.
«Jeder Schulweg ist anders»
Die Oberriedner Nachbargemeinden Horgen und Thalwil indes gehen auf Nummer sicher: In Horgen werden Kindergärtler beider Stufen auf ihrem Weg zum Hort begleitet, und zwar seit es Tagesschulen gibt, wie die Gemeinde auf Anfrage bestätigt. Der Grund sei einfach, sagt Simone Augustin, die Horgner Leiterin Bildung: «Der Weg zwischen Kindergarten und Hort liegt in der Verantwortung der Schule.» Für den Weg von zu Hause in den Kindergarten und zurück hingegen sind die Eltern verantwortlich. So steht es in der Zürcher Volksschulverordnung.
In Thalwil werden Kinder des ersten und des zweiten Kindergartens ebenfalls zum Hort begleitet. Dies allerdings erst seit dem vergangenen September. Die Sofortmassn ahme trat wenige Wochen nach dem tödlichen Unfall in Oberrieden in Kraft. Zunächst galt sie vorübergehend und nur für den ersten Kindergarten. Dann wurde das neue Regime auf beide Stufen ausgeweitet und dauerhaft eingeführt.
Eine ähnliche Reaktion würde sich die von den Tamedia-Zeitungen zitierte Mutter in Oberrieden wünschen. «Viele begleiten ihr Kind ja auch am Morgen in den Kindergarten», argumentiert die Frau. Mittags sei dies für viele Mütter und Väter nicht möglich, da häufig beide berufstätig seien.
Janek Lobmaier sieht die Schule deswegen jedoch nicht unter Zugzwang. «Jeder Schulweg ist anders», sagt der Oberriedner Schulpräsident. – Zu weiteren Massnahmen wäre die Gemeinde gemäss Volksschulverordnung erst dann verpflichtet, wenn Kindergärtler den Weg zwischen Kindergarten und Hort nicht selbständig zurücklegen könnten.
Unterstützung für die Gemeinde gibt es von Nikolaus Dopler, dem Präsidenten des Elternvereins im Ort. Der Weg in den Kindergarten und zum Hort sei ein Lernprozess, den Kinder machen müssten, sagt Dopler: «Man kann nicht alles auf die Gemeinde oder die Schule schieben.»