Tausende von Kindern und Jugendlichen aus den besetzten Gebieten der Ukraine werden nach Russland gebracht. Jene, die Glück haben, werden indoktriniert und wieder zurückgeschickt. Andere werden im Feindesland festgehalten oder gar zur Adoption freigegeben.
An einem milden Morgen im September 2022 marschierten russische Soldaten im Schülerwohnheim des technischen Gymnasiums in Cherson auf und befahlen den verängstigten Teenagern, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie würden in ein Ferienlager gebracht, hiess es. Wer nicht gehorche, werde verhaftet.
Die 15-jährige Lisa stieg nur widerwillig in den Bus. Die Soldaten sagten nicht, wohin es ging, und sie ahnte, dass das Feriencamp ein Vorwand war. Wieso nahmen ihnen die Soldaten sonst ihre Smartphones weg? Und wieso durfte sie ihre Mutter nicht informieren?
Hätte sie damals gewusst, was die Russen genau planten, hätte sie sich heftiger gewehrt, sagt das Mädchen, das aus Sicherheitsgründen hier nicht mit vollem Namen genannt werden kann. Es sei alles so schnell gegangen, sie habe keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Sie konnte sich zu diesem Zeitpunkt aber auch noch nicht vorstellen, wozu der Feind fähig war.
Russische Truppen hatten die strategisch wichtige Hafenstadt Cherson in den ersten Kriegstagen erobert. Lisas Gymnasium stand seither unter russischer Kontrolle. Sieben Schülerinnen und Schüler wohnten im angegliederten Internat, weil sie keine Eltern mehr hatten oder diesen die Vormundschaft entzogen worden war. Lisa war ein Sonderfall, ihre Mutter lebte noch, hatte nach dem Tod des Vaters aber wieder geheiratet, und das Mädchen verstand sich nicht gut mit dem Stiefvater. Deshalb wohnte auch sie unter der Woche im Studentenwohnheim.
Die russischen Soldaten interessierten solche Details nicht. Sie steckten alle Jugendlichen, die sie am frühen Morgen dort antrafen, in einen Bus und brachten sie auf die Krim. Die Halbinsel liegt nicht weit von Cherson entfernt und war früher eine beliebte Feriendestination für die Ukrainer. Sei 2014 wird sie jedoch von den Russen kontrolliert.
Aus den Ferien wird schleichend der neue Alltag
Lisa verbrachte die folgenden Monate mit Dutzenden anderen ukrainischen Kindern und Jugendlichen in einem russischen Ferienlagerhaus. Anfangs fühlte es sich tatsächlich an wie Ferien, die Kinder waren viel in der Natur und tobten sich aus. Dann kehrte der Alltag ein, und alle wurden nach Altersgruppen in Schulklassen eingeteilt. Die Lehrer sagten ihnen nur, sie würden vorerst auf der Krim bleiben, weil es dort sicherer sei.
Die Kinder durften untereinander nicht Ukrainisch sprechen. Für Lisa war das kein Problem, ihre Muttersprache ist Russisch. Dennoch hasste sie das neue Internat, das völlig von der Aussenwelt abgeschottet war. Sie konnte weiterhin nicht mit ihrer Mutter sprechen und hatte panische Angst, dass sie sie nie wiedersehen würde.
«Es war wie im Gefängnis», sagt Lisa. «Wir konnten uns nicht frei bewegen und sollten auch nicht frei denken. Und wir wurden von morgens bis abends mit Hasspropaganda gegen die Ukraine zugemüllt.»
Die Betreuer hätten ihnen eingebleut, dass ihre Familien und ihr Land sie nicht mehr haben wollten. Wenn sie aus Russland zurückkehrten, würden sie gefoltert oder hingerichtet. Später hiess es, dass die Ukraine völlig zerstört sei und sie dort keine Zukunft mehr hätten. «Russland ist stark, und ihr könnt Teil dieses grossartigen Reiches werden», wurde ihnen eingetrichtert.
Bei vielen von Lisas Mitschülern funktionierte die Gehirnwäsche. Sie übernahmen allmählich die Argumente der Russen. Lisa beobachtete besorgt, wie auch ihre sechs Kameraden aus Cherson immer prorussischer wurden.
«Die Russen sind Meister der Propaganda, schon in der Sowjetunion wurden die Menschen sehr geschickt manipuliert», sagt Mikola Kuleba, der Direktor von Save Ukraine, einer Organisation, die Familien bei der Suche nach verschleppten Kindern hilft.
Die erzwungene Umsiedlung von Kindern ist nicht das Werk einzelner grausamer Beamter, sie ist staatlich geplant. In allen von Russland besetzten Gebieten spielten sich in den letzten zwei Jahren ähnliche Dramen ab. Seit Kriegsbeginn wurden mehr als 19 000 Kinder offiziell als verschleppt oder verschwunden gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.
Berichte von Eltern und Kindern aus Orten, die von den Ukrainern zurückerobert wurden, machen das Vorgehen der Russen deutlich. In den besetzten Gebieten werden die Leiter von Kindergärten, Schulen und Waisenhäusern ausgewechselt. Die neuen, Russland-treuen Verantwortlichen schicken Kinder und Jugendliche dann zur «Erholung» auf die Krim oder in andere Regionen der Russischen Föderation.
Viele Eltern stimmen zu, in der Hoffnung, dass ihre Kinder im Ferienlager sicherer seien und etwas vom Krieg abgelenkt würden. Es kommt aber auch vor, dass Kinder gegen den Willen von Eltern, Grosseltern oder anderen Angehörigen in Camps geschickt werden.
Über 80 Institutionen im ganzen Land
Genaue Zahlen fehlen, weil die Lage im Kriegsgebiet unübersichtlich ist und die Russen nicht kooperieren. Wissenschafter am Humanitarian Research Lab der Universität Yale haben aber mithilfe von öffentlich zugänglichen Daten und Satellitenaufnahmen Informationen über verschwundene ukrainische Kinder gesammelt. Sie beobachten derzeit über 80 Institutionen in Russland, in denen ukrainische Kinder untergebracht sind. Mehrere davon befinden sich auf der Krim, einige aber auch in sehr viel weiter entfernten Regionen wie Sibirien oder Tschetschenien.
Die Kinder würden in Russland systematisch indoktriniert und gegen ihr Land aufgehetzt, sagt der Direktor des Humanitarian Research Lab, Nathaniel Raymond, im Gespräch. In mehreren Fällen hätten männliche Teenager zudem militärische Kurse besuchen müssen. Der Menschenrechtsexperte schätzt, dass mindestens 12 000 ukrainische Kinder solche Umerziehungslager durchlaufen hätten.
Die Mehrheit dieser Kinder kehrte danach zu ihren Familien zurück, aber bei weitem nicht alle. Vor allem Kinder aus Dörfern und Städten, die von den Ukrainern zurückerobert wurden, werden häufig in Russland festgehalten. Die russischen Behörden behaupten, sie könnten die Kinder nicht ins Feindesland zurückschicken. So war es auch im Fall von Lisa. Gut einen Monat nachdem sie auf die Krim gebracht worden war, fiel Cherson wieder in ukrainische Hand. Die Russen schickten die Teenager nicht mehr zurück und informierten auch niemanden über ihren Aufenthaltsort.
Nach ein paar Monaten wurde Lisa in eine Fachhochschule für Gastronomie versetzt. Diese war nicht mehr so abgeschottet, und es gab dort auch russische Schüler. Lisa schloss Freundschaft mit einem von ihnen, der ein Smartphone besass und es ihr auslieh. So gelang es ihr, über soziale Netzwerke eine Freundin in Cherson zu kontaktieren. Diese alarmierte Lisas Mutter, die verzweifelt nach der Tochter gesucht hatte.
Es dauerte weitere zwei Monate, bis Lisa ihre Mutter umarmen konnte. Mithilfe von Save Ukraine fand die Mutter heraus, wo sich die Tochter aufhielt. Die Fachhochschule war nur 150 Kilometer Luftlinie von Cherson entfernt, doch dazwischen lag die Front. Die Mutter musste einen riesigen Umweg über Weissrussland und Russland nehmen, um auf die Krim zu gelangen. Mehr als eine Woche war sie unterwegs, wiederholt wurde sie von russischen Polizisten kontrolliert und verhört. Mehr darf sie nicht erzählen, es könnte weitere Rettungsaktionen erschweren.
Die resolute Blondine liess sich nicht einschüchtern. Sie hat ihre Tochter gefunden und zurückgebracht. Viele andere Mütter wagen die Reise ins Feindesland aber erst gar nicht oder kommen erfolglos zurück.
Waisen trifft es am schwersten
Männer im wehrfähigen Alter dürfen die Ukraine nicht verlassen, sie würden in Russland wohl auch sofort verhaftet. Andere Angehörige wie Grossmütter, Tanten oder ältere Schwestern werden von den russischen Behörden nicht als rechtliche Vertreterinnen anerkannt, selbst wenn sie die Vormundschaft haben. Von den Müttern hängt das Schicksal der Kinder also ab. Wer keine Mutter mehr hat, wird kaum mehr aus den Klauen der Russen befreit – und läuft Gefahr, zur Adoption freigegeben zu werden. Tausende von entführten ukrainischen Waisen sollen bereits von russischen Familien adoptiert worden sein.
Nathaniel Raymond und sein Team arbeiten derzeit an einem neuen Bericht über Adoptionen. Die Situation sei höchst beunruhigend, sagt der Menschenrechtsexperte. Ukrainische Kinder aus Heimen würden meist gar nicht in Camps gebracht, sondern direkt in private Institutionen in Russland. Ihre Spur sei schwer zu verfolgen.
Lisas Geschichte ist deshalb eine von wenigen mit einem Happy End. Nach zehn Monaten in russischer Gefangenschaft sah das Mädchen plötzlich die Mutter im Schulhof stehen. «Ich habe am ganzen Körper gezittert und geheult wie eine Wahnsinnige», sagt die heute 16-Jährige.
Sie wohnt nun mit der Mutter in einer Notunterkunft von Save Ukraine in einem alten Hotel im Osten von Kiew. Die beiden teilen sich ein enges Zimmer, in das knapp zwei Einzelbetten und ein Schreibtisch passen. Lisa stört das nicht. Sie war früher sehr selbständig, doch heute ist sie nicht mehr gerne allein. Sie hasst es, wenn die Mutter ihren Mann in Cherson besucht.
Lisa verfolgt online wieder die Lektionen an ihrem alten Gymnasium, die Lehrer betreuen sie, so gut es geht, aus der Distanz. Nach der Matura will sie in Kiew studieren. Zurück nach Cherson will sie auf keinen Fall. Die Lage sei dort zu unsicher, die Russen zu nah.
Angst, Wut und Abscheu
Das vergangene Jahr hat Spuren hinterlassen, wenn auch nicht ganz so tiefe Wunden wie bei anderen Kindern. Viele der Geretteten seien schwer traumatisiert, sagt Mikola Kuleba. In seiner Notunterkunft wohnen derzeit zwanzig Minderjährige mit ihren Angehörigen. Im grossen hellen Gemeinschaftssaal, direkt hinter der Küche, bringen Mitarbeiterinnen einer Gruppe von Mädchen und Buben Englisch bei. Viele von ihnen wirken eingeschüchtert und sprechen kaum.
Lisa wirkt dagegen fröhlich und selbstbewusst. Sie macht Tiktok-Videos und träumt davon, Influencerin zu werden. «Mehr als Wut empfinde ich den Russen gegenüber Abscheu, Abscheu!», sagt sie. «Kinder zu manipulieren, ist das Allerletzte.»
Lisa hat in Kiew eine neue Freundin gefunden. Mit den sechs Kameraden, mit denen sie verschleppt wurde, hat sie keinen Kontakt mehr. «Sie sind auf der Krim geblieben und haben sich russifizieren lassen. Wir sind nun Feinde», sagt sie und wird ungewöhnlich still. Sie weiss, dass die anderen kaum eine Wahl hatten.
Von den 19 000 offiziell als verschleppt oder verschwunden gemeldeten Kindern konnten erst 388 zurückgeholt werden, 251 von ihnen mithilfe von Save Ukraine. Die Geretteten waren zwischen 8 und 17 Jahre alt. Entführt werden auch Babys und Kleinkinder, doch diese aufzuspüren, ist fast unmöglich.
Mikola Kuleba setzt sich seit 25 Jahren für die Rechte ukrainischer Kinder ein, unter anderem war er auch Berater des Präsidenten. Er ist ein Kämpfer, er wird nicht aufgeben, obwohl er zunehmend frustriert über die eigene Machtlosigkeit ist. «Unicef hat uns jahrelang belehrt, wie wir Kinderrechte in unserem Land zu implementieren hätten. Wo sind die Vereinten Nationen nun? Wieso üben sie nicht mehr Druck auf Russland aus?»
Putin persönlich involviert
Die Verschleppung von Kindern stellt gemäss dem humanitären Völkerrecht ein Kriegsverbrechen dar. Im März 2023 hat der Internationale Strafgerichtshof (ICC) deshalb einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Kinderbeauftragte, Maria Lwowa-Belowa, erlassen. Die direkte Verantwortlichkeit des Präsidenten kann bei diesem Straftatbestand leichter nachgewiesen werden als im Fall von anderen Kriegsverbrechen. Putin und Lwowa-Belowa haben die Indoktrinierung ukrainischer Kinder öffentlich propagiert und deren Adoption durch russische Familien gefördert.
Russland ist sich der Brisanz des Themas spätestens seit dem internationalen Haftbefehl bewusst. Jedes zurückgebrachte Kind ist nun ein potenzieller Zeuge vor dem ICC, ein Zeuge gegen die scheinheilige Argumentation, dass Russland «arme» Kinder vor dem Krieg rette.
Die Rückholaktionen sind in den letzten Monaten deshalb noch schwieriger geworden. Russische Beamte geben keine Informationen über Kinder mehr heraus, und lokale Aktivisten, die Ukrainerinnen helfen, werden verhaftet. Bis vor einem Jahr konnten die Mütter noch in Gruppen nach Russland reisen, mittlerweile nur noch einzeln, was deutlich mehr Mut und Durchsetzungsfähigkeit erfordert. Einige Mütter seien vom Inlandgeheimdienst verhört und danach ausgeschafft worden, andere habe man zu Falschaussagen für Propagandavideos gezwungen, berichtet Kuleba.
In den besetzten Gebieten zwingen die russischen Behörden den Bewohnern derweil immer aggressiver russische Pässe auf. Werden Ukrainer zu Russen, hat Moskau ganz offiziell die Hoheit über sie und ihre Kinder.