In den 1980er Jahren wurde dank Pirmin Zurbriggen, Peter Müller, Maria Walliser, Michela Figini und anderen die «Skination Schweiz» geboren. Sie hallt bis heute nach – als trauriges Echo.
Zum Wetterbericht: Ein Tiefdruckgebiet verlagert sich von Skandinavien zum Balkan und treibt feuchte Polarluft zu den Alpen. Auf dem Säntis werden innert drei Tagen zwei Meter Neuschnee gemessen, Schnee fällt bis ins Flachland. In anderen Worten: Der Winter kehrt zurück an diesem letzten Wochenende im März, bis nach Saalbach und Hinterglemm im Pinzgau.
So war es im Jahr 1988. Im Salzburgerland gewannen das letzte Mal für lange Zeit ein junger Mann und eine junge Frau aus der Schweiz den Gesamtweltcup: Pirmin Zurbriggen und Michela Figini. 36 Jahre oder ein halbes Leben sind verstrichen, bis in diesen Tagen wiederum in Saalbach am letzten Märzwochenende mit Marco Odermatt und Lara Gut-Behrami Athleten aus der Schweiz die grossen Kristallkugeln stemmen dürfen. Phänomenal!
Phänomenal? Wer die Gnade der frühen Geburt in den 1970er Jahren oder davor erfahren hat, verspürt neben Respekt vor den phänomenalen Leistungen von Odermatt und Gut-Behrami ein Empfinden, das man sanfte Melancholie nennen möchte. Gab es in den vergangenen Wochen irgendwo im Land fiebrig gespanntes Mitleiden? Fand irgendwo im Bergrestaurant ein Kampf um die Plätze vor dem TV statt? Kein Kind hat die Schulstunde geschwänzt, um auf dem Heimweg vor dem Schaufenster des Radio- und TV-Geschäftes eines der Rennen auf dem Weg ins Finale nicht zu verpassen.
Der Sieg im Gesamtweltcup ist fast selbstverständlich
Saalbach nennt sich jetzt «Home of lässig», es kämpft gegen den Frühling und mit vielen Tonnen Salz um den allerletzten Schnee. Die Bilder zeigen grüne und braune Landschaften, wenn die Kameras nicht auf das schmale Pistenband gerichtet sind. Beim letzten Schweizer Doppelsieg vor einem halben Menschenleben gab es Schneetreiben und Nebel. Als man sich vor einem halben Menschenleben noch im März bei Wind und Wetter hinterm Haus rücklings in frischen Neuschnee fallen liess, fand man das lässig. Was war das für eine Zeit?
Es war die Zeit, als niemand ahnen konnte, dass die Schweiz einmal eine «Segel-Nation» sein würde wegen Alinghi oder gar eine «Tennis-Nation» wegen Roger Federer. Die Schweiz gab es nur und ausschliesslich als «Skination», ohne Bindestrich. Auch heute taucht diese «Skination Schweiz» in Berichten und TV-Kommentaren manchmal noch auf, aber «Skination» klingt heute falsch und aus der Zeit gefallen, als würde dem Wort etwas fehlen. Wie auf den Bildern der Schnee fehlt neben den künstlichen Pistenstreifen in Saalbach, Adelboden oder Crans. Vielleicht fehlt der Skination auch die Schweiz.
Das ist ganz anders, als im März 1988 Pirmin Zurbriggen mit einem kleinen Rückstand auf den Italiener Alberto Tomba zu den drei entscheidenden Rennen nach Saalbach reist. Michela Figini ist bereits deutlich Leaderin vor der Teamkollegin Maria Walliser. Figini gewinnt die Abfahrt und bekommt zum zweiten Mal die grosse Kristallkugel für den Sieg im Gesamtweltcup. Zurbriggen gewinnt seine dritte von insgesamt vier grossen Kugeln, weil Tomba nach dem Ausfall im Riesenslalom im zweiten Lauf des finalen Slaloms einfädelt.
Der zweifache Erfolg ist eine grosse Sache. Aber zum Protokoll gehört, dass es am Ende der 1980er Jahre schon fast eine Selbstverständlichkeit ist, dass die Skifahrer aus der Schweiz fast alles gewinnen, was es zu gewinnen gibt. Figini hat ein paar Wochen vorher in Calgary eine Silbermedaille geholt, Zurbriggen olympisches Abfahrtsgold und Bronze im Riesenslalom. Der Gesamtweltcup Ende März ist eigentlich nur noch die Zugabe nach einem langen, begeisternden Konzert aus lauter Hits der 1980er Jahre.
Als Zurbriggen in Saalbach die Bühne verlässt, ist er gerade erst 25-jährig geworden, aber er hat zwei Jahre vor dem Rücktritt schon fast ein ganzes Sportlerleben hinter sich. Es ist ein Leben, das nicht nur von einem Burschen aus einem Walliser Bergdorf handelt, der sein Talent für das Skifahren auf den Rennpisten entfaltet. Es handelt auch davon, wie ein junger Mann zu etwas viel Grösserem wird als zu einem Sportler, der besonders schnell zwischen roten und blauen Toren durchfährt. Es zeigt auch, wie sich die Schweiz als «Skination» den grössten Sporthelden in jener Zeit imaginiert.
TV-Kameras am Krankenbett
Zurbriggen ist 21-jährig, als er mit dick bandagiertem Bein durch die Rennbahnklinik in Muttenz geschoben wird, ihm ist ein Teil des beschädigten Innenmeniskus entfernt worden. Das Schweizer Fernsehen ist dabei, als würde es gerade Paparazzi-Aufnahmen mit dem Handy erfinden. Man kann auf Youtube nachschauen, wie der TV-Reporter aus dem Pulk der Journalisten Zurbriggen fragt, wie es ihm gehe.
Er sagt nicht viel, die Verletzung hat er sich bei einem Schlag in der Abfahrt in Kitzbühel zugezogen, das Rennen hat er dennoch gewonnen. Die WM in Bormio steht bevor, kann er starten? Zurbriggen weiss nicht so recht, aber er lächelt und scheint sich nicht gross zu stören am Rummel. Drei Wochen später ist Zurbriggen Abfahrtsweltmeister. Die Heldengeschichte ist perfekt.
Sie ist nur eine von mehreren Episoden, eine andere ist Zurbriggens Rivalität mit dem Teamkollegen Peter Müller: Der grummlige Geradeausfahrer aus dem Unterland ist der Gegenpart zum Bergler Zurbriggen, der Eleganz auf Ski. Auch die Frauen liefern Legende gewordenen Stoff, der die Sportnation fasziniert: Die Konkurrenz zwischen Michela Figini und Maria Walliser wird wie ein «Zickenkrieg» inszeniert, obwohl es das Wort noch gar nicht gibt. Die Tessinerin gilt seit einem bösen Kommentar in einer Deutschschweizer Zeitung als maulfaul und mürrisch, die Toggenburgerin ist eloquent und offen.
Die «Skination Schweiz» nährt sich an diesen Geschichten und vergrössert sich so mit den Erfolgen der Skihelden in die Welt, wo auch die kleine Schweiz wahrgenommen wird. Und sei es nur, der Berufung als Volk von naturwüchsigen Berglern nachzukommen, auf Brettern an den Füssen die Berge hinunterzufahren. Die WM in Crans Montana, ein Jahr vor dem Weltcup-Final in Saalbach, führt die vielen Kapitel der Erzählung der «Skination Schweiz» zur Schlussfassung zusammen: Die Schweiz gewinnt im eigenen Land acht von zehn Goldmedaillen.
Wer sich die Bilder von diesen Tagen nochmals anschaut, sieht nicht nur den Freudentaumel des einheimischen Publikums. Man sieht nicht nur, wie Peter Müller endlich einmal vor Zurbriggen die Abfahrt gewinnt oder wie Michela Figini Ärger und Enttäuschung auf dem Gang zur Siegerehrung zu überspielen versucht, nachdem sie von Maria Walliser wegen ein paar Hundertstelsekunden in den zweiten Rang verwiesen worden ist.
Vielleicht sieht man auch kurz Bundesrat Pierre Aubert, wie der Aussenminister mit schneeweissem Schal die WM eröffnet, als würde er die Schweizer Dreifaltigkeit aus Politik, Tourismuswirtschaft und Armee dafür segnen, den Skisport bis zu den goldenen Tagen in Crans geführt zu haben. Es sind auch Bilder, die vom Abschied erzählen.
Prato und Mosnang: Skibetrieb geschlossen
Es ist der Abschied von der Zeit, in der sich die Schweiz im Skifahren wiedererkennen wollte. «Alles fährt Ski», hatte das Motto des Ski-Präsidenten Adolf Ogi in den 1970er Jahren geheissen, Ogi wurde später auch Bundesrat. Es war ein Motto, dem fast die ganze Bevölkerung folgte.
Sie lernte von Kindsbeinen an Skifahren, die Bilder von den Slaloms in Crans rufen in Erinnerung, wie das ging: Hoch, tief, den Innenski etwas entlasten, dann gelingt die Kurve. Bald wird ein leichter Knick mit dem Knie genügen; der Carving-Ski dreht fast von allein. Unterdessen kann das nur noch, wer genug Geld hat, um zum Schnee zu kommen. Zum Schnee, der am Ende der 1980er Jahre noch fast allen zur Verfügung stand.
Die Erfolge von Lara Gut-Behrami und Marco Odermatt bewegen keine «Skination» mehr, weil es diese nur noch als Echo aus fernen Zeiten gibt. Die beiden Weltcup-Sieger sind Ausnahmeathleten in einer Einzelsportart, die sich immer weniger mit der Schweizer Bergwelt verbinden lässt. Michela Figini wuchs neben einem Skilift in Prato auf, der Vater von Maria Walliser betrieb in Mosnang den Bügellift auf die Hochwacht. Betrieb geschlossen, melden beide Anlagen.
Und nun zum Wetter in Saalbach für heute Sonntag, 24. März 2024: Westliche Strömungen transportieren feuchte Luft ins Salzburgerland. Bei Temperaturen von 5 Grad wird wechselhaftes Wetter mit gelegentlichem Schneeregen erwartet.