Die deutsche Energiewende erfordert laut einer Studie bis 2035 Investitionen in Höhe von gigantischen 1240 Milliarden Euro. Sie generiert aber auch Wachstum – und sie gewinnt an Fahrt.
Deutschland hat im April 2023 die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet und will bis spätestens 2038 aus der Kohleverstromung aussteigen, mit dem politischen Ziel der derzeitigen Regierung, den Kohleausstieg noch vorzuziehen. Diese Energiewende erfordert enorme Investitionen. Nicht nur die erneuerbaren Energien müssen stark ausgebaut werden, sondern zum Beispiel auch die Übertragungsnetze.
Ein am Dienstag veröffentlichter «Fortschrittsmonitor Energiewende» des Beratungsunternehmens EY und des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) versucht, dieser Energiewende ein Preisschild umzuhängen. Er kommt auf eine stolze Summe: 1214 Milliarden Euro an Investitionen sind hierfür laut dem Bericht bis 2035 nötig, davon 721 Milliarden Euro bis 2030.
Wo investiert werden muss
Um einen Eindruck von der Grössenordnung zu haben: Das deutsche Bruttoinlandprodukt, also die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung, hat letztes Jahr rund 4120 Milliarden Euro betragen.
Die genannte Summe von über 1200 Milliarden Euro müsste bis 2035 investiert werden, um die politisch fixierten Ziele der Energiewende zu erreichen. Zu diesen Zielen zählt etwa die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien (EE) an der Stromerzeugung auf 80 Prozent bis 2030.
Den grössten Anteil an diesen Gesamtinvestitionen entfällt laut den Schätzungen der Studie auf den Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Hierfür sind allein bis 2030 rund 353 Milliarden Euro nötig, bis 2035 sogar insgesamt 569 Milliarden Euro. An zweiter Stelle folgen Investitionen in die Übertragungs- und Verteilnetze für Strom und Gas von insgesamt 473 Milliarden Euro.
So müssen zum Beispiel die Nord-Süd-Verbindungen stark ausgebaut werden, weil mit den Windparks an und vor den Küsten im Norden des Lands viel «grüne» Energie im Norden erzeugt wird, die grossen industriellen Verbraucher aber vor allem im Süden und Südwesten angesiedelt sind.
Wo Wertschöpfung anfällt
EY und BDEW heben hervor, dass diese Investitionen auch zum Wirtschaftswachstum beitragen würden. Sie könnten «in erheblichem Umfang Wachstum und regionale Wertschöpfung generieren», erklärte EY-Partner Metin Fidan. Denn sie würden für eine erhebliche Bruttowertschöpfung bei den Herstellern der benötigen Investitionsgüter wie Windturbinen, Solarpanels oder Elektrolyse-Anlagen sorgen. Die Studie geht von einer potenziellen Bruttowertschöpfung von etwa 52 Milliarden Euro pro Jahr aus, was rund 1,5 Prozent der gesamten Bruttowertschöpfung in Deutschland entspricht.
Noch wird dieses Potenzial allerdings längst nicht ausgeschöpft: Die letztes Jahr tatsächlich ausgelöste Bruttowertschöpfung schätzt die Studie auf nur etwa 28 Milliarden Euro. Dies sei immerhin deutlich mehr als 2022 und selbst damit habe der Wirtschaftseinbruch begrenzt werden können, der durch den Krieg in der Ukraine und die Energiekrise ausgelöst worden sei. «Um die Potenziale voll zu nutzen, ist vor allem eine weitere Steigerung der Investitionen in den Bereichen EE-Stromerzeugung und Netzausbau erforderlich,» liess sich Kerstin Andreae, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung zitieren.
Wende nimmt Fahrt auf
Wie der Fortschrittsmonitor weiter feststellt, hat die Energiewende im vergangenen Jahr Fahrt aufgenommen. Planungs- und Genehmigungsverfahren seien vereinfacht worden. Der Anteil der Erneuerbaren am Gesamtstromverbrauch sei von 40 Prozent im Jahr 2021 auf 54 Prozent im letzten Jahr gestiegen. Damit habe er erstmals die 50-Prozent-Marke überschritten. Zu dieser Entwicklung hat die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke, aber auch der konjunkturbedingt gesunkene Stromverbrauch beigetragen.
2023 sei vor allem ein Rekordjahr für den Ausbau der Photovoltaik (PV) gewesen, schreiben EY und BDEW. Insgesamt seien PV-Anlagen mit einer Leistung von 13,6 Gigawatt hinzugefügt worden. was gegenüber dem Vorjahr fast einer Verdoppelung entspreche und über dem Zielpfad liege. Allerdings sei ab 2026 sogar ein jährlicher Zubau von über 20 Gigawatt nötig, um die Ausbauziele der Bundesregierung zu erreichen.
Auch der Ausbau der Windenergie hat sich laut dem Bericht letztes Jahr mit einem Plus von etwa 3,3 Gigawatt an Land und 0,3 Gigawatt auf See deutlich beschleunigt. Er blieb aber trotzdem unter dem Zielpfad und müsste vor allem im Bereich «Wind auf See» massiv beschleunigt werden, um die Ziele zu erreichen.
Rückschlag Heizungsgesetz
Bei der Wärmewende, also dem Umstieg auf das Heizen mit Erneuerbaren, stellen die Autoren hingegen einen Rückschlag fest: Die Diskussion über das Heizungsgesetz im Sommer 2023 habe zu erheblichen Unsicherheiten und infolgedessen zu vorgezogenen Investitionen in Gasheizungen geführt, nachdem deren Absatz im Vorjahr noch gesunken sei. Hinzu kämen Engpässe aufgrund von Fachkräftemangel, die voraussichtlich eine weitere Verzögerung des Wärmepumpen-Ausbaus verursachen würden.
Eine «enorme Leistung» bescheinigt der Monitor der deutschen Netzwirtschaft: Seit 2006 habe die Dauer der Strom-Versorgungsunterbrechungen in etwa halbiert werden können. Auch vor dem Hintergrund des steigenden Anteils der erneuerbaren Energien sei das hohe Niveau an Versorgungssicherheit nicht nur gehalten, sondern verbessert worden.
Das ist insofern ein wichtiges Thema, als eine stabile Energieversorgung mit Wind, der nicht immer weht, und Sonne, die nicht immer scheint, anspruchsvoller wird. Mit einer (durchschnittlichen) Versorgungsunterbrechung von 12,2 Minuten pro Letztverbraucher habe der Wert 2022 unter dem langfristigen Durchschnitt von 14,7 Minuten gelegen, stellt der Monitor fest. Im internationalen Vergleich sei das ein Spitzenwert und «ein positiver Standortfaktor für Deutschland».
Trotz aller Fortschritte bleibe der Handlungsdruck hoch, um die Ziele bis 2030 zu erreichen, fasst Andreae zusammen. Dafür brauche es Kapital. Dafür Anreize zu schaffen und Investitionen zu ermöglichen, gehöre zu den grössten Herausforderungen der kommenden Jahre. «Wir können uns dabei nicht allein auf öffentliche Mittel verlassen. Mehr denn je gilt es, privates Kapital für die Energiewendeprojekte zu gewinnen.»
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