Auch die letzte modische Bastion der Sexiness ist nun weit geschnitten. Warum nicht: Es gibt kaum ein geeigneteres Schuhwerk, um durch die Sümpfe unserer Zeit zu waten.
Weiss jemand, wo sich der gestiefelte Kater heutzutage aufhält? Eine Vermutung zumindest drängt sich auf: backstage bei den aktuellen Fashion Weeks, mit seinen Pfötchen fest am Puls der Zeit. Denn auf welchen Laufsteg man schaut, ob in New York oder in London, überall werden die Beine der Models von Stiefeln verschluckt. Sie bestehen aus Leder: schwarz und poliert, grau und rau, dunkelbraun und mit Henkeln versehen. Sie enden irgendwo in der Mitte des Oberschenkels.
Noch viel wichtiger ist aber: Sie sind breit. Mit Platz für das Bein, die darin eingesteckte Hose und sicherlich auch noch diverse Schmuggelwaren. Von den eng anliegenden, leicht anrüchigen Sockenstiefeln à la Balenciaga oder den hinten mit Schnürungen verzierten Modellen von Stuart Weitzman, die die zehner Jahre prägten, hat man sich für Herbst/Winter 2025 offenbar endgültig verabschiedet.
Statt zu stolzieren, wird man laut Designerinnen und Designern also durch das letzte Jahresviertel waten: durch den Alltag, durch den Regen, durch die vielen Sümpfe unserer Zeit. Mit ihren Unmengen an Leder mögen die neuen Overknee-Stiefel visuell überbordend sein und das Materielle zelebrieren. Doch von Optimismus zeugen sie nicht.
Düster und glamourös
Die Erklärungen der Designerinnen und Designer für ihre Kollektionen bestätigen das. Bei Thom Browne war der gute alte Eskapismus angesagt. Genauer: ein stilistischer Exkurs in die Vogelbeobachtung, komplett mit Origamivögeln und federnbesetzten Wimpern. Seine mit Gummi besohlten, flachen Watstiefel waren ein Mittel zum Zweck und mit Schnallen an der Hüfte befestigt, fast komisch mit ihrem ultraweiten Schnitt. Wie vieles, was Browne entwirft, werden sie kaum zur Alltagsmode werden. Aber sie geben einen Impuls.
Und dann greift man vielleicht zu einem tragbareren Modell, zum Beispiel von Khaite. Die Designerin Catherine Holstein kreierte für ihre Show eine generelle Atmosphäre der Düsterkeit und huldigte damit, wie sie selbst sagt, dem kürzlich verstorbenen Regisseur David Lynch. Ihre Overknee-Stiefel wurden zu dicken Pullovern, Lederjacken, Jeans oder tief ins Gesicht gezogenen Schiebermützen getragen. Das schrie nach Glamour, ja, aber vor allem: nach Schutz. Vielleicht vor dem Unberechenbaren und nicht ganz Erklärbaren, wie es Lynch in seinen Filmen so gekonnt inszeniert hatte.
Düstere Stimmung und hohe Stiefel bei Khaite, Herbst/Winter 2025.
Von einer mörderischen Atmosphäre geprägt war auch die Kollektion von Daniel Lee für Burberry, der filmischen Inspirationsquelle «Saltburn» (2023) sei Dank. Deren wichtigste Zutaten sind eine reiche, schöne und komplizierte Familie, ein gigantisches Herrschaftshaus und reichlich Blut. Lees Overknee-Stiefel kamen deswegen wie ins Extrem getriebene Reitstiefel der britischen Upper Class daher, getragen zu engen Reiterhosen und kurzen Jacken.
Bei Burberry erinnerten die Overknees an Reitstiefel.
Oben respektabel, unten dreckig
Wirklich aufrüttelnd aber waren die Stiefel in der Herrenkollektion für Herbst/Winter 2025 von Saint Laurent Anfang Februar, wo der Kreativdirektor Anthony Vaccarello in die achtziger Jahre und zum Fotografen Robert Mapplethorpe schaute. «Respectable at the top, but dirty on the way down», beschrieb Vaccarello seine Entwürfe treffend. Am besten verkörperten das die Anzüge mit breiten Schultern und Revers, deren passende Hosen in übertrieben hohen Overknees verschwanden.
Das polierte Leder der Stiefel erinnert an Mapplethorpes ikonisch gewordene Bilder von Männern in Fetischkleidung. Ihre Verruchtheit wird weiter verstärkt durch die Zugeknöpftheit der Anzüge. Diese Lederstiefel müssen nicht eng sein; sie müssen nicht einmal Haut zeigen. Stattdessen liegt ihre Macht in ihrer Materialität und ihrem Stilbruch.
Der gestiefelte Zeitgeist
Dieser Effekt war bereits für die vergangene Herbstsaison in abgeschwächter Form bei Labels wie Gucci und Chloé zu sehen, die damals schon breite Overknee-Stiefel über den Laufsteg sandten. Mit seiner erweiterten Silhouette passt sich der Stiefel, nüchtern betrachtet, schlicht den Gegebenheiten an. Wo sonst soll man seine so breit gewordenen Hosenbeine verstauen?
Trotzdem: Im Mainstream durchgesetzt haben sich die Stiefel bisher nicht. Wie immer braucht es wohl Zeit. Und geschicktes Styling. Denn ohne lange Modelbeine wirkt man darin schnell verloren. Der gestiefelte Kater mag eine Märchenfigur sein, die Jahrhunderte überdauert hat, und seine Stiefel mögen es sein, die ihm laut der Erzählung zu Macht und Reichtum verhalfen. Ein Stilvorbild ist er trotzdem nicht.