An der Aare diskutiert man über die Freuden und Herausforderungen der Schweizer Mundart, nimmt das Ich zwischen den Buchdeckeln wichtig und fordert «Haltung!» – in allen Belangen. Impressionen vom Landhausquai
Das Wort «Solothurn» ist ein Chamäleon. Es meint im Winter nicht das Gleiche wie im Frühling. Heisst für Film- nicht dasselbe wie für Literaturschaffende. Kann sowohl Orts- als auch Datumsangabe sein. Sagt jemand im Literaturbetrieb: «Wir sehen uns in Solothurn», meint er genau drei Tage im Mai, während deren die Stadt mit Büchern neu gebaut wird. Solothurns Lebensader ist dann nicht die Hauptgasse, sondern der Landhausquai. Hier knistert das Papier, hier klingt die Lesestimme.
Im Stadttheater, in der Weinhandlung und natürlich im Restaurant Kreuz wird gelesen, wird zugehört, wird diskutiert. Dabei gehen die Veranstaltungen und das Zwischendurch mühelos ineinander über. Wer eben noch im Landhaus auf der grossen Bühne sass, ist zehn Minuten später bei einem Ballon Weisswein auf dem Landhausquai davor anzutreffen. Alles fliesst in Solothurn.
Das Ich im Text
«Mögen Sie Ihre Erzählerin?», fragt der Moderator am Freitag in der Früh die diesjährige Solothurner Literaturpreisträgerin Anne Weber. «Sie nicht?», kontert diese. Lachen im Saal. Weber wurde für ihren Roman «Bannmeilen», einen literarischen Streifzug durch die Pariser Banlieue, mit dem diesjährigen Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet.
Sie erzählt darin von sich selbst und einem anonymisierten Freund, der im Buch eigentlich gar nicht vorkommen wollte. Man unternimmt einen gemeinsamen Spaziergang, spricht darüber, wie Armut und Schönheit auf engstem Raum koexistieren, davon, wie Faszination in Voyeurismus übergehen kann. Sie lasse ihre Protagonistin auch sehr einfache, ja eigentlich naive Fragen stellen, bemerkt der Moderator. Das führe ihn zu der Frage, ob die Autorin das erzählende Ich überhaupt möge. «Die Erzählerin entspricht leider sehr mir selbst. Ich bin vielleicht tatsächlich etwas einfältig», antwortet Weber. Verhaltenes Lachen. Sei ja auch nicht nur schlecht, die Einfältigkeit, sagt Weber dann.
Das Ich, das man bei Weber naiv und unsympathisch finden kann, hält unter der Bezeichnung «Autofiktion» gerade wieder Einzug zwischen die Buchdeckel. Ein erzählendes Ich, das bei manchen Werken kaum vom schreibenden Ich zu unterscheiden ist. Das macht – wie Webers Antwort zeigt – eine fachliche Kritik automatisch zur persönlichen Kritik. Im besten Fall kann die Autofiktion der Erzählstimme aber auch eine Dringlichkeit und Unmittelbarkeit verleihen, wie das sonst viel seltener geschieht.
«Ich wünsche mir Haltung»
Mit Glitzer im Augenwinkel sitzt Laura Leupi in der schmalen Cantina del Vino und spricht über «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt», das von A wie Angst bis Z wie Zuhause – die meisten Übergriffe geschehen nämlich nicht in der vielbeschworenen nächtlichen Gasse, sondern im vermeintlich sicheren Daheim – reicht.
Die Rahmenhandlung, in die Leupi das Alphabet eingepflegt hat, geht von einer nicht näher beschriebenen Gewalterfahrung aus und thematisiert in erster Linie das Weiterleben danach. Leupi ist nonbinär und sagt, auch nach dem Schreiben sei «mir immer noch nicht klar, wie ich diese Geschichte erzählen kann, ohne Frau zu werden – was ich nicht bin – und ohne Opfer zu werden – was ich nicht sein will».
Eines aber ist für Leupi glasklar: «Für mich ist Kunst immer politisch» – jede Begegnung sei eine politische Verhandlung. «Ich wünsche mir Haltung», sagt Leupi, denn bei gewissen Themen könne man es sich schlicht nicht leisten, keine zu haben.
Bei manchen schrillen an dieser Stelle die Aktivismus-Alarmglocken. Sie seien daran erinnert, dass Leupi und andere Literaten dieser neuen Generation – etwa Levin Westermann, mit «Zugunruhe» ebenfalls in Solothurn vertreten – nichts Neues anfangen. Vielmehr treten sie gesellschaftspolitisch in die Fussstapfen derjenigen, die wir einst das Schweizer Gewissen nannten. Friedrich Dürrenmatt zum Beispiel, der mit seiner Rede «Die Schweiz – ein Gefängnis» dem Land den Spiegel vorhielt. Oder Max Frisch, der mit seiner Aussage zum Umgang mit den italienischen Gastarbeitern – «wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen» – die einfachste Beschreibung für ein bis heute ungelöstes Problem fand.
Der iranisch-österreichische Dramatiker Amir Gudarzi geht einen anderen Weg als Leupi oder Weber. Zwar ist sein erster Roman «Das Ende ist nah» ebenfalls sehr politisch. Aber Gudarzi hat von Anfang an klar gesagt: Obwohl A., wie Gudarzi in Iran geboren, im gleichen Jahr wie Gudarzi nach Europa geflüchtet und wie Gudarzi in Teheran Regimegegner gewesen und in Wien zum Antragsteller geworden ist, handle es sich nicht um seine Geschichte. Nicht um ein Alter Ego, sondern um eine neue Figur.
Ein Platz an der Sonne
Gudarzi bewegt sich in Solothurn nicht nur auf der Literaturmeile namens Landhausquai, sondern besetzt auch den Aussenposten vor der mächtigen St.-Ursen-Kathedrale. Vor der breiten, weissen Kirchentreppe haben die Literaturtage-Organisatoren ein buntes Kabäuschen aufgebaut, in dem alle halbe Stunde eine andere Autorin, ein anderer Autor liest.
«En plein air» heisst die kostenlose Veranstaltung, «en plein soleil» möchte man korrigierend anfügen. «Soll ich weiterlesen, oder seid ihr schon alle geschmolzen?», ruft Gudarzi irgendwann ins Publikum, das Pullis, Programme und andere Gegenstände zu Schattenspendern umfunktioniert hat. Das Publikum lacht und klatscht und will mehr, und Gudarzi liest also weiter.
Das Kabäuschen mitten in der Stadt ist nicht nur ein Aussenposten, es ist auch ein Gradmesser. Hier können auch jene stehenbleiben und zuhören, die nicht extra ein Ticket gekauft haben und darum vielleicht eigentlich etwas anderes zu tun hätten. Hier zeigt sich darum sofort, wer die Leute mit dem eigenen Auftritt in Bann ziehen kann.
Liest etwa das Mundart-Urgestein Pedro Lenz – der zugibt, zwar seine Bücher auf Berndeutsch zu verfassen, seine Kurznachrichten aber auf Hochdeutsch, «da muessmä nid glich studiere, da chamä eifach schribe, wiemes ir Schueu glehrt het» –, sieht man von der Treppe kaum noch etwas, so viele Leute drängen sich darauf. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auch bei Laura Leupi und dem «Alphabet der sexualisierten Gewalt». Da wird die Kathedralentreppe regelrecht zur gut gefüllten Rampe für die neue politische Literatur.
Sanftes Plätschern
In Solothurn fliesst die Aare gemächlicher als in Thun oder Bern, und so verhält es sich auch mit den Gemütern. Palästina ist ein Thema, aber kein dominierendes. Es gibt hier viel Raum für Literatur und Lesungen, wie sie schon immer waren. Wenn Gianna Molinari in einer Lesung ohne viele Schnörkel oder politische Botschaften aus ihrem neuen Roman «Hinter der Hecke die Welt» liest und von ihrem Schaffensprozess erzählt, zum Beispiel.
Gleichzeitig ist man hier auch neugierig. Bei einer Podiumsdiskussion zur künstlichen Intelligenz etwa sagt der österreichische Autor Elias Hirschl, auch einer dieser jungen Wilden, etwas wunderbar Hoffnungsvolles: «Für mich lautet die wichtigste Frage in dieser Diskussion: Wenn Maschinen irgendwann das, was ich mache, besser können – werde ich es dann immer noch tun wollen?» In dem Spannungsfeld aus Angst davor, von der Maschine obsolet gemacht zu werden, und Hoffnung darauf, alles Unliebsame delegieren zu können, ist Hirschls Antwort ebenso einfach wie schön: «Ja, weil es mir Freude macht.»
Das ist es auch, was in Solothurn in diesem Jahr, das übrigens ohne ganz grosse Publikumsmagnete auskam, vorherrschte: Freude an dem, was man macht. So dürften denn die meisten mit bücherschweren Koffern und guten Gefühlen abreisen. Und Solothurn wieder sich selbst überlassen. Bis die Jahreszeit wieder wechselt und das Chamäleon sich erneut wandelt.