Die Dienstpflicht für strenggläubige Juden ist ein jahrzehntealtes Politikum. Der Krieg hat es plötzlich wieder in den Mittelpunkt der Debatte katapultiert. Die Regierung muss Lösungen finden – doch ihr läuft die Zeit davon.
Demonstrationen sind in Israel keine Seltenheit. Im Streit um die Justizreform im vergangenen Jahr wurden sie gar zu einer Art Volkssport. Dass aber Hunderte von ultraorthodoxen Männern eine Autobahn blockieren und sich Scharmützel mit der Polizei liefern, wie es Anfang März nahe Bnei Brak geschehen ist, ist selbst in Israel ungewöhnlich. Doch die Haredim, wie die Ultraorthodoxen auf Hebräisch genannt werden, haben derzeit allen Grund, beunruhigt zu sein.
«Wir werden sterben und nicht einrücken», stand auf den Plakaten, die sie in die Höhe hielten. Ihr Ärger richtete sich gegen die immer lauter werdenden Rufe, dass auch die Ultraorthodoxen zum Militärdienst eingezogen werden sollen. Denn mit dem Krieg gegen die Hamas ist eine seit Jahrzehnten schwelende Streitfrage wieder in den Mittelpunkt der nationalen Debatte gerückt, die das Potenzial hat, die Koalition von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu platzen zu lassen.
Thora statt Armee
Grundsätzlich gilt in Israel: Alle jüdischen Israeli müssen Militärdienst leisten – 32 Monate die Männer, 24 die Frauen. Es gibt allerdings einen Ausweg: Wer bis zu einem gewissen Alter eine Yeshiva – eine religiöse Schule – besucht, kann nicht eingezogen werden. Diese Regelung ist so alt wie der Staat Israel selbst: 1948 kam der Staatsgründer David Ben-Gurion mit den Haredim überein, dass eine kleine Zahl von Yeshiva-Schülern keinen Dienst leisten muss, solange diese sich ausschliesslich dem Studium der Thora widmen.
Damals handelte es sich um lediglich 400 Schüler, für die Armee war dies verkraftbar. Ben-Gurion ging davon aus, dass sich die israelische Gesellschaft schnell säkularisieren und das Problem von allein verschwinden würde. Er lag falsch. Heute machen die Haredim 13 Prozent der Bevölkerung aus – Tendenz rapide steigend.
So sind die Ultraorthodoxen zu einem gewichtigen politischen Faktor geworden und sind gefragte Koalitionspartner in der notorisch zersplitterten Parteienlandschaft Israels. Ihre Regierungsbeteiligung lassen sie sich fürstlich entlöhnen: mit Sozialleistungen, vergünstigtem Wohnraum und kontinuierlich wachsenden Subventionen für die Thora-Schulen. Die Haredim-Politiker haben so für ihre Wählerbasis einen beispiellosen Wohlfahrtsstaat geschaffen, der es ihnen gleichzeitig erlaubt, ihre Gemeinschaft vom säkularen Mainstream fernzuhalten.
Und auch die Ausnahme von der Dienstpflicht haben sie kontinuierlich ausgeweitet. Wie die israelische Armee kürzlich mitgeteilt hat, wurden im vergangenen Jahr 66 000 Yeshiva-Schüler vom Dienst befreit – ein neuer Rekord.
Diskriminierende Praxis
Allerdings war Israels Oberstes Gericht schon 1998 zum Schluss gekommen, dass die Ausnahmepraxis diskriminierend und deshalb illegal sei. Seither haben mehrere israelische Regierungen vergeblich versucht, das Problem zu lösen. So urteilte das Gericht im Jahr 2017, dass ein von der Knesset verabschiedetes Gesetz, das eine pauschale Ausnahmeregelung vorsah, ungültig sei. Es wies die Regierung an, ein neues Gesetz auszuarbeiten, das zu einer verstärkten Rekrutierung von Haredim führen sollte.
Die Frist dazu lief im vergangenen August aus, das Gesetz verfiel – doch die Netanyahu-Regierung fand erneut einen Weg, sich mehr Zeit zu verschaffen. Fünf Tage vor Fristende verabschiedete das Kabinett eine Resolution, in der die Armee angewiesen wurde, bis zum 31. März 2024 auf die Rekrutierung von Yeshiva-Schülern zu verzichten. Die Argumentation: Der Beschluss ändere nicht die Rechtslage, sondern sorge lediglich dafür, dass die gegenwärtige Rechtslage nicht umgesetzt werde, während man nach einer Lösung suche.
Nun naht der 31. März, und es liegt kein neuer Vorschlag auf dem Tisch. Die Regierung hat bereits eine weitere Verlängerung beantragt. Wegen des Krieges sei es nicht möglich gewesen, sich um die Gesetzgebung zu kümmern. Doch Ende Februar wies das Gericht die Regierung an, bis zum 24. März zu begründen, weshalb die Resolution nicht annulliert werden solle. Die Regierung hat ihrerseits versprochen, bis dahin einen Gesetzesentwurf vorzulegen und diesen bis Ende Juni zu verabschieden.
Der Personalbedarf der Armee bleibt hoch
Der Streit um die Dienstpflicht für Ultraorthodoxe geht weit über die juristisch-politische Dimension hinaus. Viele Israeli, die treu Dienst leisten, empfinden es als zutiefst ungerecht, dass ein wesentlicher Teil der Gesellschaft diese Last nicht mittragen muss. Der Krieg hat diese Stimmungslage noch einmal verstärkt. In einer neuen Umfrage sprachen sich 70 Prozent der jüdischen Israeli dafür aus, dass die Ausnahmeregelung geändert werde.
Nach dem brutalen Hamas-Angriff vom 7. Oktober hatten sich Tausende Soldatinnen und Soldaten bei ihren Einheiten gemeldet, noch bevor sie einen Marschbefehl erhalten hatten. Es wurden fast 300 000 Reservisten eingezogen. Zwar wurden die meisten inzwischen wieder ins zivile Leben entlassen, doch bei vielen bleibt ein bitterer Nachgeschmack, da keine Haredim an ihrer Seite gekämpft hatten. Bereits fürchtet die Armeeführung, dass die Motivation der Reservisten abnehmen könnte, wenn das Problem nicht gelöst wird.
Gleichzeitig geht das Verteidigungsministerium davon aus, dass der Personalbedarf der Armee auf Jahre hoch bleiben wird. Bereits fehlen in den professionellen Kampfeinheiten rund 2000 Soldaten. Daher hat das Ministerium kürzlich einen Gesetzesentwurf vorgelegt, wonach die verpflichtende Dienstzeit auf volle drei Jahre und das Dienstalter für Reservisten von 40 auf 45 Jahre erhöht werden soll. Der Vorschlag sorgte für einen Aufschrei. Die Vorstellung, mehr Dienst leisten zu müssen, während die Haredim ausgenommen bleiben, empörte viele Israeli. Vor dem Haus eines ultraorthodoxen Ministers versammelten sich wütende Demonstranten.
Wohin mit den Haredim?
Im Februar meldete sich der Generalstabschef Herzl Halevi mit einer seltenen politischen Stellungnahme zu Wort: «Es ist eine historische Chance, die Basis der Rekrutierung für die Armee zu einer Zeit zu erweitern, in der der Bedarf sehr gross ist», sagte er. Doch innerhalb der Armee ist die Rekrutierung der Haredim umstritten. Hinter vorgehaltener Hand lassen Offiziere durchblicken, dass sie für die schlecht ausgebildeten Ultraorthodoxen, denen wesentliche Fähigkeiten fürs Militär fehlen, kaum Verwendung hätten.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Armee verschiedene Programme gestartet, um mehr Haredim anzulocken. Geschlechtergetrennte Einheiten wurden geschaffen, und es wurde mehr Zeit für Gebete und das Studium der Tora eingeräumt – mit minimalem Erfolg. Nur wenige hundert Männer meldeten sich.
Dennoch scheint der Krieg bei Teilen der ultraorthodoxen Gemeinschaft zu einem Umdenken zu führen. Allein in den ersten zehn Wochen des Krieges haben sich mehr als 2000 Haredim freiwillig zum Dienst gemeldet. In einer neuen Umfrage gaben fast 30 Prozent an, die Wehrpflicht zu befürworten – 20 Prozentpunkte mehr als vor dem Krieg. Die Frage ist allerdings, ob die politischen Führer der Haredim gewillt sind, eine Dienstpflicht zuzulassen und damit die sorgsam gepflegte Abgrenzung zur Mainstream-Gesellschaft aufzuweichen.
Jüngst drohte einer der höchsten Rabbiner in Israel damit, dass Tausende Ultraorthodoxe das Land verlassen würden, sollte die Ausnahmeregelung aufgehoben werden. «Wenn sie uns zwingen, zur Armee zu gehen, werden wir alle ins Ausland ziehen», sagte er.
Netanyahu bleibt vage
Die Regierung steht vor einem Dilemma. Entweder verabschiedet sie ein Gesetz, das auch die Ultraorthodoxen in die Pflicht nimmt – oder sie riskiert, dass das Oberste Gericht eine Gleichbehandlung durchsetzt. In beiden Fällen droht ein Rückzug der Haredim aus der Regierung. Eine dritte Option wäre ein Gesetz, das die bisherige Praxis festschreibt. Dieses würde aber wohl nicht nur vom Gericht kassiert werden, sondern auch die israelische Volksseele zum Kochen bringen.
Ministerpräsident Netanyahu versprüht derweil Zuversicht: «Wir werden Ziele für die Einberufung von Ultraorthodoxen in die Armee und den nationalen Zivildienst festlegen», versprach er Ende Februar an einer Pressekonferenz, ohne konkret zu werden. «Wir werden auch die Wege zur Umsetzung dieser Ziele festlegen.» Netanyahu weiss, dass ihm ungemütliche Entscheidungen bevorstehen – und dass ihm die Zeit für politische Manöver davonläuft.







