Archäologen erforschen die Werkzeuge gerade mit neuen Methoden. Die technologischen Neuerungen vor Tausenden von Jahren sagen auch viel über Ernährung und kognitive Fähigkeiten früher Menschen aus.
Wenn das britische Militär eine neue Waffe ausprobieren will, schiesst ein Soldat auf einen Block aus durchsichtigem Wackelpudding. Der Wackelpudding besteht aus sogenannter ballistischer Gelatine, die menschliches oder tierisches Gewebe simuliert. Annemieke Milks hat so in Zusammenarbeit mit dem Militär auch schon Waffen testen lassen. «Mit der Zeit habe ich den Eindruck bekommen, das funktioniert gut für Feuerwaffen», sagt sie, «aber die Ergebnisse sind anders als bei meinen Speeren aus Holz mit einer Steinspitze.»
Milks ist Archäologin an der Universität Reading. Früher war sie einmal professionelle Violinistin, aber in ihrer archäologischen Laufbahn hat sie sich, wie sie selbst sagt, «immer nur mit Waffen beschäftigt».
Werkzeuge und Jagdwaffen aus Stein sind eine der wichtigsten Quellen für die Archäologie. Jetzt werden sie von Wissenschafterinnen wie Annemieke Milks mit neuen Methoden und in Experimenten genauer untersucht als je zuvor. Und das hat weitreichende Folgen. Denn wie die Waffen sich durch die Zeit entwickelt haben, zeigt, wie die frühen Menschen sich ernährt und sich technologisch an die sich verändernde Umwelt angepasst haben, aber auch viel Grundsätzlicheres: die kognitive Evolution.
Die ältesten erhaltenen Waffen sind die Holzspeere von Schöningen
Stein ist das Material, nach dem die erste und bisher längste Epoche der Menschheitsgeschichte benannt ist. Umso überraschender ist es, dass die ältesten bekannten Jagdwaffen gar nicht aus Stein sind, sondern – aus Holz.
Es geht hier notabene um die ältesten Waffen, nicht um die ältesten erhaltenen Werkzeuge. Die ältesten Werkzeuge sind durchaus aus Stein, etwa die berühmten Faustkeile, die etwa von vor 1,5 Millionen bis vor 40 000 Jahren in Gebrauch waren.
Aber wie erlegt man ein Tier mit einem Faustkeil? «Gar nicht», sagt Annemieke Milks. Denn den Faustkeil hielt man, wie der Name schon sagt, in der Hand – so nah kommt man an Jagdbeute in der Regel aber gar nicht heran. Dafür braucht es eine Fernwaffe.
1994 stiessen Archäologen in einem Braunkohletagebau bei Schöningen in Niedersachsen auf zugespitzte Stöcke aus Fichtenholz, die zwischen 1,84 und 2,53 Meter lang sind. Holz ist für Archäologen immer etwas Besonderes, denn es erhält sich nur unter bestimmten, seltenen Bedingungen. In diesem Fall ruhte es in dauerhaft feuchtem Boden – 300 000 Jahre lang. So alt sind die zehn sogenannten Schöninger Speere, die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Welt. Sie lagen zwischen einer grossen Menge Knochen von Wildpferden, Nashörnern und Elefanten.
Einige Archäologen, unter ihnen Milks, sehen hier einen frühen Neandertaler am Werk; die Art entwickelte sich etwa um diese Zeit in Europa. Vor 300 000 Jahren lebten in Mitteleuropa aber auch Vertreter einer Menschenart, die wir heute Homo heidelbergensis nennen. Die meisten Archäologen gehen davon aus, dass sie es waren, die die Speere herstellten.
Die Schöninger Speere treffen auf 20 Meter ihr Ziel
Bis zum Fund der Speere in Schöningen glaubte man, dass diese frühen Menschen sich nur von Aas ernährten. Nun war klar: Schon vor 300 000 Jahren haben sie Tiere erlegt und geschlachtet.
Wie genau sie das taten, ist allerdings umstritten. Einige Archäologen halten die Speere für reine Stichwaffen, die niemals geworfen wurden. «Ich treffe manchmal Kollegen, die sagen dann zu mir: ‹Ich habe meine Studenten diese Speere werfen lassen, und bei keinem sind sie weiter als ein paar Meter geflogen – das sind keine ernstzunehmenden Waffen!›», erzählt Milks.
Aber es sei wie beim Geigespielen: Jeder bekommt einen Ton heraus, und jeder kann den Speer irgendwie werfen. Um den Wurfresultaten aus der Steinzeit näher zu kommen, reicht es nicht, ein paar Studenten ein bisschen Spass haben zu lassen. Milks lässt professionelle Athleten antreten oder Armeeangehörige: «Die machen auch Bajonett-Training, da passen die Speere ganz gut dazu.» Das helfe auch zu verstehen, wie die Speere als Stosswaffe hätten eingesetzt werden können.
Ihre Experimente mit Repliken der Schöninger Speere beweisen, dass diese Waffen nicht nur fliegen, sondern auch ein bis zu 20 Meter entferntes Ziel treffen können. Zudem haben Analysen gezeigt, dass ihre Länge und ihr Gewicht heutigen Wettkampfspeeren entsprechen und ihr Schwerpunkt, wie es ballistisch sinnvoll ist, im vorderen Drittel liegt.
«Holzspeere werden oft als primitiv abgetan, und ja, sie sind vergleichsweise einfach, aber eben auch effektiv. Deshalb gibt es sie bei Jägern und Sammlern bis heute», sagt Milks.
Auch die Wurfhölzer aus Schöningen waren nicht primitiv
Und in Schöningen fanden die Archäologen noch etwas: zwei Wurfhölzer.
Wurfhölzer waren und sind bei Jägern und Sammlern verbreitet, vor allem für die Jagd auf kleinere Tiere wie Hasen und Vögel. Sie werden auf niedrigerer Höhe rotierend geworfen.
Die Exemplare aus Schöningen, gefunden 1994 und 2016, sind 65 und 78 Zentimeter lang. Milks hat sie zusammen mit Kollegen unter anderem mit Computertomografie untersucht. Sie konnten zeigen: Auch dies waren nicht einfach irgendwelche Stöcke. Die Wurfhölzer sind sorgfältig so bearbeitet, dass sie aerodynamisch sind, leicht gebogen und an beiden Enden angespitzt.
Neandertaler befestigten erstmals ein Steinwerkzeug an einem Holzschaft
Dass man scharfkantige Werkzeuge gewinnen kann, indem man mit einem Stein auf den anderen schlägt, wussten die Menschen zur Zeit der flugfähigen Schöninger Holzwaffen schon seit mehr als zwei Millionen Jahren. Aber auf die Idee, die beiden Techniken zu verbinden, kamen sie erst später.
Vor 250 000 Jahren befestigten Menschen erstmals einen zugehauenen Stein an einem Stück Holz. Schäften nennen Archäologen das. Die ältesten unzweifelhaften Nachweise stammen aus Biache-Saint-Vaast in Frankreich. Und dank Skelettresten lässt sich eindeutig sagen: Es waren Neandertaler, die diesen kognitiven Schritt gingen – auch wenn das nicht unbedingt bedeutet, dass sie die Ersten und die Einzigen waren.
Waffen mit Steinspitzen hätten möglicherweise einige Vorteile gegenüber solchen aus Holz, erklärt Milks: «Ich probiere gerade aus, ob Stein breitere Wunden reisst und eine heftigere Blutung verursacht. Das würde bedeuten, das getroffene Tier stirbt schneller.»
Die Speerschleuder verleiht dem Geschoss mehr Durchschlagskraft
Bei Speeren und Wurfhölzern musste die Bewegungsenergie rein mit der eigenen Kraft erzeugt werden. Dann erfand der vor etwa 40 000 Jahren aus Afrika eingewanderte Homo sapiens Vorrichtungen, um Waffen mechanisch zu schiessen: die Speerschleuder und den Bogen.
Die Speerschleuder kann man sich ein bisschen so vorstellen wie jene Kellen, mit denen Hundehalter einen Ball über die Wiese katapultieren. In den Haken am Ende einer Stange aus Knochen, Geweih oder Elfenbein wird ein leichter Speer eingehängt. Schleuder und Speer werden über den Kopf gehoben, die Schleuder wirkt als Hebel, verlängert den Arm und verleiht dem Geschoss damit mehr Energie. Der Speer fliegt weiter, als wenn er von Hand geworfen wird.
Die ältesten erhaltenen Exemplare stammen aus Frankreich und sind etwa 20 000 Jahre alt. Immer wieder versuchen Archäologen aber auch, indirekt auf eine frühere Existenz dieser Waffen zu schliessen: indem sie an den Knochen von Beutetieren nach Spuren eines Geschosses suchen.
Veerle Rots hält diese Methode allein für unzuverlässig. Die Archäologin von der Universität Liège ist spezialisiert auf Analysen von Abnutzungsspuren an Steinwerkzeugen und ballistische Experimente. Kürzlich hat sie mit Kollegen in einem mehrstufigen Vorgehen 31 000 Jahre alte Steinwerkzeuge aus Maisières-Canal bei Mons in Belgien untersucht. Sie weisen Spuren auf, die nur entstehen können, wenn sie mit einer Speerschleuder verschossen wurden.
Pfeil und Bogen sind leicht und flexibel
Meist wird davon ausgegangen, dass die Speerschleuder vor Pfeil und Bogen erfunden wurde, aber beweisen lässt sich das nicht. Denn der früheste Nachweis von Pfeil und Bogen ist noch viel unsicherer als der einer Speerschleuder. Sie bestehen aus vergänglichem Holz. Der älteste erhaltene Bogen stammt aus Dänemark und ist nur 9000 Jahre alt.
Archäologen argumentieren deshalb für frühere Zeiten mit der Grösse der Steinspitzen – so etwa kürzlich bei 54 000 Jahre alten und bereits dem Homo sapiens zugeschriebenen Funden aus der Höhle Mandrin in Frankreich. Sind die Spitzen sehr klein, müssten sie auf einem Pfeil und nicht einem Wurfspeer gesessen haben. Das aber sei, schreiben Rots und ihre Kollegen, unhaltbar: In heutigen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften – die für die Altsteinzeit oft als Vergleich herangezogen werden – lasse sich zeigen, dass es Speerspitzen in ganz verschiedenen Grössen gebe.
Den Grund für die Entwicklung beziehungsweise den vermehrten Einsatz von Pfeil und Bogen sehen Archäologen in der veränderten Umwelt: Vor etwa 14 500 Jahren wurde es in Mitteleuropa wärmer, statt einer eiszeitlichen Steppe mit Mammuts und Wollnashörnern war die Landschaft jetzt dicht bewaldet und von Hirschen und Elchen bevölkert. Zwischen den Bäumen, so die gängige Theorie, und für die Jagd auf weniger massige Tiere waren Pfeil und Bogen besser geeignet.
Zudem ist diese Waffe leicht und schnell, es sind mehrere Schüsse hintereinander möglich, und sie erlaubt verschiedene Positionen.
Kulturelle und praktische Gründe für die Wahl einer Waffe
«Gerade denken auch einige Leute über andere Gründe nach, weshalb sich die Menschen für eine bestimmte Waffe entschieden haben», sagt Milks. Zum Beispiel ist die Technik der Speerschleuder einfacher zu lernen als die des präzisen Speerwurfs. Und mit der Speerschleuder können auch weniger grosse und weniger kräftige Personen an der Jagd teilnehmen.
Aber es können auch kulturelle Gründe sein – oder die Aussentemperatur. Milks verweist auf Marlize Lombard von der Universität Johannesburg. Sie kam darauf, dass man eine Speerschleuder, erfunden in der Eiszeit, anders als einen Bogen auch mit Fäustlingen benutzen kann.
Was bedeutet: Theoretische Überlegungen zur technologischen Entwicklung von Holz zu Stein und von Speer zu Speerschleuder zu Pfeil und Bogen sind ja schön und gut. Aber man darf das Praktische nicht vergessen, das tatsächliche Leben der Menschen in der Altsteinzeit. Oder, wie Milks sagt: «Stell dir vor, es ist minus 10 Grad, und du versuchst, das Abendessen heranzuschaffen.»
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»