Im Auftrag einer amerikanischen Behörde machte sich Thomas Mann Gedanken, was aus Nazideutschland werden könnte. Der Text wurde nicht publiziert, das handschriftliche Original galt als verschollen und ist jetzt wieder aufgetaucht.
«Hitler’s most intimate enemy» – so wurde Thomas Mann von der amerikanischen Presse genannt, als er nach drei vorangehenden Reisen 1938 endgültig in die USA emigrierte. Seine Vortragsreisen kreuz und quer durch Amerika als «Wanderredner der Demokratie», wie er sich seinerseits selbstironisch nannte, verliehen ihm eine Prominenz, wie sie einem deutschen Schriftsteller nie zuvor beschieden war. Ihren sichtbaren Ausdruck fand sie in seiner zweimaligen Einladung ins Weisse Haus durch Präsident Roosevelt. Aufgrund der Autorität, die ihm in der öffentlichen Meinung zukam, wurde Thomas Mann immer wieder um politische Statements gebeten.
Anfang März 1943 erhält er den offiziellen Auftrag einer Stellungnahme zur Zukunft Deutschlands. Am 4. März 1943 schreibt Thomas Mann im Tagebuch: «Versuchte etwas über Deutschlands Zukunft für das Office of War Information.» Dieses Amt (OWI), das von Juni 1942 bis September 1945 bestand, war eine Regierungsbehörde für die Verbreitung von Kriegsinformationen und -propaganda, welche die öffentliche Meinung für den Sieg über Nazideutschland mobilisieren sollte.
Thomas Mann schrieb an dem Artikel in den nächsten Tagen weiter. Bezeichnend seine Zeitökonomie: Die geheiligten Vormittage sind der dichterischen Arbeit gewidmet, in diesen Tagen der Moses-Novelle («Das Gesetz»). Erst am Nachmittag beschäftigt er sich mit anderen Dingen wie dem Artikel fürs Office of War. Diesen beendet er am 7. März, wie er im Tagebuch protokolliert, mit dem eingeklammerten merkwürdigen Zusatz: «nichtig».
Am nächsten Tag übergibt er den Text zur Übersetzung seinem Privatsekretär Konrad Katzenellenbogen. Dessen Kommentar: «Nicht the greatest living, sondern der einzige.» Katzenellenbogen, der aus Berlin stammende spätere Politikwissenschafter, welcher während der amerikanischen Emigration seinen Namen zu Konrad Kellen zusammenschrumpfen liess, spielt offensichtlich auf die Werbebroschüre für Thomas Manns Vortragsreise «The Coming Victory of Democracy» im Frühjahr 1938 an, in der er als «The Greatest Living Man of Letters» gerühmt wird.
Verschollenes Manuskript
Der Sekretär scheint eine höhere Meinung von dem Artikel gehabt zu haben als «mein Boss, der Zauberer» (um den Titel von Kellens Erinnerungen an Thomas Mann zu zitieren). Das OWI veröffentlichte den Text indessen nicht, aus welchen Gründen auch immer. Thomas Mann hat daraufhin an dem Artikel offenbar das Interesse verloren.
Das handschriftliche Original verblieb im Besitz von Kellen, aus dem es in den späten siebziger Jahren in den Auktionshandel gelangte – und von der Bildfläche verschwand. In dem von Peter de Mendelssohn herausgegebenen Tagebuchband ist nur Kellens Übersetzung des Artikels abgedruckt. Unlängst ist das seit Jahrzehnten verschollene Schriftstück wieder aufgetaucht und als spektakulärer Fund in den Besitz der Hamburger Traditionsbuchhandlung Felix Jud gelangt.
Gleich zu Beginn des Essays betont Thomas Mann, er wolle nicht die Rolle des «rachsüchtigen Emigranten» spielen, und verwirft die «Gesamtbestrafungs-, Sterilisierungs- und Ausrottungsideen», die von den Gegnern Nazideutschlands hier und da vertreten werden. Thomas Mann spielt wohl auf das Pamphlet des Amerikaners Theodore Newman Kaufman an, das dieser Anfang 1941 unter dem Titel «Germany Must Perish!» veröffentlichte.
Kaufman hatte darin für eine Sterilisierung aller Deutschen plädiert, um die Welt vor ihrer vermeintlich angeborenen Kriegsneigung zu bewahren. Die in den USA eher als Verirrung eines Einzelgängers angesehene Schrift wurde, wie später der Morgenthau-Plan, der Deutschland auf einen reinen Agrarstaat reduzieren wollte, von der NS-Propaganda ausgeschlachtet, um der Bevölkerung zu verdeutlichen, was Deutschland im Falle einer Niederlage von seinen Feinden zu erwarten hätte.
«Ich halte das deutsche Volk darum nicht für ausnehmend hoffnungslos, weil ich glaube, dass eine Erziehung, wie die, die das Nazi-Regime zehn Jahre ungehindert an ihm vornehmen durfte, in jedem Volk die gleichen Ergebnisse zeitigen würde.» So Thomas Mann. Er warnt deshalb vor «Selbstgerechtigkeit» und verweist auf Österreich: «Die Nazi-Revolution sah in dem liebenswürdigen Wien nicht besser, sondern eher noch gemeiner aus, als in dem militaristischen Berlin, und eine faschistische Revolution in Amerika, wäre sie denkbar, würde sich ganz bestimmt auch nicht besser ausnehmen.»
Solche Äusserungen aber waren gewiss nicht im Sinne des OWI. So nimmt es nicht wunder, dass man dort den in Auftrag gegebenen Artikel des berühmten Autors fallenliess.
Eine gründliche Revolution
Thomas Mann ist der Überzeugung: «Der Faschismus ist tot heute in Italien; es nimmt dort kein Hund ein Stück Brot mehr von ihm. Und ebenso tot ist meiner Überzeugung nach heute der National-Sozialismus in Deutschland [. . .]» Wenn er sich noch an der Macht halten könne, dann nur wegen der Furcht der Bevölkerung davor, «was die Niederlage bringen wird». Thomas Mann ist sich sicher, dass das «unglückliche Volk» bald einsehen wird, dass der «Führer» es in den «trostlosen Krieg» allenfalls hineinführen konnte, aber niemals herausführen wird.
«Wenn das deutsche Volk dieser Tatsache endlich einsichtig wird, so wird es, glaube ich, ihn und das schändliche Gesindel, das solange bei ihm den Meister spielen durfte, abschütteln in einem Aufstande, der ihm in den Augen der Welt seine Ehre zurückgeben wird.» Der Augenblick für diesen Aufstand wird gegeben sein, «wenn die zweite Front in Europa da ist».
Thomas Mann greift hier auf das aktuelle politische Schlagwort zurück. In der Geheimkonferenz von Casablanca im Januar 1943 hatten wenige Wochen zuvor die USA und Grossbritannien die Frage einer «zweiten Front» in Europa mit einer Invasion in Frankreich erörtert, die auf der Teheran-Konferenz Ende 1943 in ihr konkretes Stadium trat. Ist also die zweite Front da, so wird das deutsche Volk, «mag sein im letzten Augenblick, aber doch eben noch rechtzeitig, eine echte und gründliche Revolution ins Werk setzen, eine Reinigung seines Hauses».
Thomas Mann scheint voll des Glaubens, dass es fortan ein «friedliches Zusammenleben Deutschlands mit den zivilisierten Völkern der Erde» im Geiste der demokratischen Grundwerte geben wird. «Einem Hitler verfällt ein Volk nur einmal – und dann nie wieder. Niemand wird mich überzeugen, dass eine Nation, die erlebt hat, was die Deutschen seit 1933 erlebt haben, die geringste Neigung zeigen wird, das gleiche noch einmal zu erleben.»
Deutschland werde sich wieder, so schreibt Thomas Mann in der von ihm auf Englisch verfassten Schlusspassage des Essays, auf seine weltbürgerliche Tradition besinnen, durch die es einst die Bewunderung der zivilisierten Welt geerntet habe: «the German tradition of world-sympathy and universal understanding [. . .] which in former times attracted the responsive sympathy and admiration of the civilized world».
Nicht immer hat sich Thomas Mann in dieser Zeit so hoffnungsfroh über Deutschlands Zukunft geäussert. Man wird nicht ganz den Verdacht los, dass er gegenüber einer amerikanischen Regierungsbehörde ein anderes Gesicht gezeigt hat als gegenüber seinen deutschen Landsleuten, denen er in seinen von der BBC in Auftrag gegebenen Rundfunkansprachen «Deutsche Hörer!» ins Gewissen redete.
Eine «lange Quarantäne der Vorsicht und Überwachung» Deutschlands, ja dessen Bestrafung, gegen die er sich im Artikel für das OWI wehrt, hat er in den fast gleichzeitig gehaltenen Rundfunkreden durchaus nicht verworfen. Und die Hoffnung auf eine «echte und gründliche Revolution», die er in dem Artikel prophezeit, sollte sich nicht nur als haltlose Illusion erweisen, sondern es ist zweifelhaft, ob Thomas Mann ernsthaft an sie geglaubt hat.
Überzeugt von der Kollektivschuld
Die verschiedenen Gesichter Thomas Manns, je nachdem an wen er sich wendet, zeigen sich vor allem bei der Frage der Kollektivschuld. Auf der Konferenz von Casablanca war die Unterscheidung von Nationalsozialismus und deutschem Volk in Zweifel gezogen worden, und auch Thomas Mann fiel es schwer, zwischen einem Nazideutschland und einem «anderen» zu differenzieren.
In dieser Hinsicht stand er in scharfer Opposition zu Bert Brecht, der in seinem Aufsatz «The Other Germany» (1943/44) allen Ernstes behauptete, 99 Prozent der Bevölkerung gehörten diesem «anderen Deutschland» zu, während für Thomas Mann höchstens 10 Prozent die Naziherrschaft entschlossen ablehnten.
Überhaupt war er der Überzeugung, «dass es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug», so die berühmte Kardinalthese seines Vortrags «Deutschland und die Deutschen», den er im Mai 1945 in der Library of Congress in Washington halten wird. Deutschland als «das erste Opfer Hitlers» hinzustellen, wie es Brecht getan hat, lehnt er als «absurd» ab und redet von der «kollektiven Verantwortlichkeit» der Deutschen, seien sie doch nun einmal mitschuldige Täter.
Das führt er den Kreisen der Emigranten vor Augen, welche die Täterschaft der Deutschen hinter ihrer Opferrolle zurückzustellen suchen. Hat Thomas Mann es hingegen mit amerikanischen Gesprächspartnern zu tun, so scheint ihm seine tiefe Verankerung in der deutschen Bildungstradition zu gebieten, der Hoffnung auf ein besseres Deutschland Ausdruck zu verleihen und gewissermassen wie Wagners Fliegender Holländer zu bekennen: «Ach! ohne Hoffnung, wie ich bin, geb’ ich mich doch der Hoffnung hin!»