Der spektakuläre Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen erinnert an den Kalten Krieg. Die Praktiken haben sich aber geändert. Moskau betreibt heute «Geiseldiplomatie».
Selbst für die höchsten Staatsgäste ist diese Ehre sehr selten. Am Donnerstagabend fand sich der russische Präsident Wladimir Putin persönlich an der Flugzeugtreppe am Moskauer Regierungsflughafen Wnukowo-2 ein, um die zehn beim Gefangenenaustausch mit dem Westen freigelassenen Russen – unter ihnen zwei minderjährige Kinder – in der Heimat zu begrüssen.
Den Berliner «Tiergartenmörder» Wadim Krasikow, dessen Zugehörigkeit zu einer Spezialeinheit des Geheimdiensts FSB der Kreml nun bestätigte, umarmte er kräftig. Er dankte den zurückgekehrten Spionen, Hackern und Mördern für ihren Dienst am Vaterland und rollte ihnen buchstäblich den roten Teppich aus. Anwesend waren auch deren mutmassliche Chefs: der Verteidigungsminister sowie die Leiter des Inland- und des Auslandgeheimdiensts.
Putin sei es diesen Leuten, die dem Land dienten, schuldig gewesen, sie zu empfangen, sagte sein Sprecher Dmitri Peskow am Freitag. Dieses Zeichen galt nicht nur ihnen persönlich, sondern der ganzen Kaste der Geheimdienstagenten. Sie wissen jetzt: Auch wenn sie nach vollbrachten Taten auffliegen, müssen sie nicht jahrelang in ausländischen Gefängnissen schmoren. Der Präsident selbst sorgt sich um sie.
Austausch auf der Glienicker Brücke
Es ist nichts Neues, dass Staaten Spione und Agenten austauschen, die im Zielland bei ihrer klandestinen Tätigkeit gefasst werden. Die Geschichte des Kalten Krieges kennt eine ganze Reihe mehr oder weniger spektakulärer Gefangenenaustausche. Einzelne Orte wie die Glienicker Brücke an der damaligen Grenze zwischen Potsdam in der DDR und dem äussersten Westen Berlins sind zum Sinnbild dafür geworden. Auch damals wurde nicht immer Gleiches mit Gleichem vergolten. Aber was am Donnerstag auf dem Flughafen von Ankara geschah, übertrifft die Dimensionen früherer Gefangenenaustausche nicht nur quantitativ, sondern auch gewissermassen qualitativ.
Den acht russischen Agenten standen diesmal sechzehn Zivilisten gegenüber, unter ihnen sieben politische Aktivisten mit ausschliesslich russischer Staatsbürgerschaft, zwei Journalisten und mehrere Doppelbürger, von denen die meisten vermutlich eher zufällig, aber mit Absicht der Behörden in russische Gefangenschaft geratenen waren. Keiner der von Russland in den Westen Überstellten war ein Spion, obwohl mehrere von ihnen als solche verurteilt worden waren und die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti auch den abgeschobenen russischen Oppositionellen unterstellte, mit westlichen Geheimdiensten verbunden gewesen zu sein.
Es gibt wenig Zweifel daran, dass die meisten dieser Ausländer und Doppelbürger unter den Freigelassenen bewusst im Hinblick auf den Austausch mit im Westen gefassten russischen Agenten festgenommen, angeklagt und verurteilt wurden. «Austauschfonds» wird das in Russland genannt. Bereits der Gefangenenaustausch Ende 2022, bei dem unter anderem der Waffenhändler Wiktor But gegen die amerikanische Basketballspielerin Brittney Griner ausgetauscht wurde, hatte diesen Beigeschmack.
In Zeiten des Krieges gegen die Ukraine und immer weiter reichender Unterdrückung jeglicher von der offiziellen Linie abweichender Äusserungen und Handlungen fällt es dem russischen Regime noch leichter, unbescholtene Journalisten, Geschäftsleute, Reisende, ja sogar Schüler unter Verdacht zu stellen und eines Vergehens zu beschuldigen. Sie werden so faktisch zu Geiseln.
Immer öfter Abschiebung von Dissidenten
Der erste spektakuläre Gefangenenaustausch, der mit der bis heute üblichen Mischung aus absolut diskreter Vorbereitung und publizitätswirksamer Ausführung stattfand, datiert auf 1962. Damals übergab die Sowjetunion den über dem Ural abgeschossenen amerikanischen Piloten eines Aufklärungsflugzeugs, Francis Gary Powers, für den in den USA gefassten sowjetischen «illegalen» Agenten mit dem Decknamen Rudolf Abel. In der Folge wurden mehrmals gegenseitig Spione ausgetauscht, auch solche der jeweiligen Verbündeten. Einen Spezialfall stellte 1976 die Ausbürgerung des Dissidenten Wladimir Bukowski dar, der am Flughafen Zürich gegen den chilenischen Kommunisten Luis Corvalán ausgetauscht wurde.
Schon in den siebziger Jahren, als die Repression gegenüber politisch Andersdenkenden wieder zugenommen hatte, hatte die Sowjetunion nämlich begonnen, als Gegenleistung für die Rückkehr ihrer Agenten auch Dissidenten und politische Gefangene an die USA zu überstellen. Eine der grössten derartigen Operationen fand 1979 statt. Für die beiden sowjetischen Spione Waldik Enger und Rudolf Schernjajew schob Moskau fünf Dissidenten ab. 1986 wurde der politische Häftling Anatoli Schtscharanski, der jahrelang im Straflager gesessen hatte und später in Israel als Natan Sharansky in der Politik Karriere machte, gegen ein in den USA aufgeflogenes sowjetisches Paar ausgetauscht.
Im Herbst desselben Jahres war der Dissident Juri Orlow Teil eines Austauschs gegen einen sowjetischen Agenten. In seiner Konstellation kam das Vorgehen dem jetzigen am nächsten: Der amerikanische Korrespondent Nicholas Daniloff war kurz davor unter Spionagevorwurf festgenommen worden und wurde, noch ehe er verurteilt war, an Orlows Seite ausgetauscht. 37 Jahre später wurde der nun in die USA zurückgekehrte «Wall Street Journal»-Reporter Evan Gershkovich der nächste amerikanische Journalist, der als angeblicher Spion in den «Austauschfonds» geriet.
Menschenmaterial autoritärer Staaten
Der Gefangenenaustausch vom Donnerstag zeigt, dass Russland mit seiner «Geiseldiplomatie» erfolgreich ist. Es ist nicht das einzige autoritär regierte Land, das solche Praktiken in den vergangenen Jahren verfeinert hat. Als die kanadischen Behörden 2018 die chinesische Huawei-Finanzchefin Meng Wanzhou in Vancouver auf amerikanisches Ersuchen hin festnahmen, wurden kurz hintereinander in China die beiden Kanadier Michael Kovrig, ein politischer Analytiker, und Michael Spavor, ein Unternehmer, festgenommen und mehr als tausend Tage in Einzelhaft gehalten. Sie wurden in farcenhaften Prozessen verurteilt – und freigelassen, kaum hatte Kanada Mengs Überstellung an die USA verweigert.
Der Erfolg dieses Modells, das die bekannte russische Politologin Jekaterina Schulmann mit dem Verhalten terroristischer Gruppierungen verglich, stellt den Westen vor ein Dilemma. Was eigentlich die Stärke des westlichen Modells ist, der Stellenwert des Individuums und die Sorge um dessen Wohlbefinden, macht es gegenüber der Rücksichtslosigkeit von Diktaturen verletzlich.
Putin mag die Heimkehr seiner Agenten zelebrieren. Um die Einzelnen geht es ihm kaum. Auch sie sind, wie erst recht die «Geiseln» und die eigenen Bürger, die sich dem Regime widersetzen, Menschenmaterial zum Nutzen oder Schaden des Staates. Im Unterschied zu früheren Fällen wurden die russischen politischen Gefangenen, die direkt aus den Straflagern geholt worden waren, nicht mit frischer ziviler Kleidung übergeben, sondern in der sie stigmatisierenden Häftlingskluft. Offizielle russische Bilder von deren Überstellung in Ankara wurden nicht gezeigt.
Unverhohlene Drohungen
Putins Sprecher Peskow rief den ungefragt ins Ausland abgeschobenen politischen Gefangenen höhnisch hinterher, Russland hoffe, sie blieben dort, wo sie jetzt seien, wie es sich für Feinde gehöre. Der frühere Präsident Dmitri Medwedew schrieb gar, er hätte sie lieber im Gefängnis zugrunde gehen sehen. Im Ausland sollten sie sich am besten in ein Zeugenschutzprogramm begeben – eine unverhohlene Drohung.
Wie eine Drohung klingt auch Peskows Versprechen, Russland werde sich weiterhin für die Heimkehr der noch in westlichen Gefängnissen verbliebenen russischen Staatsbürger einsetzen. Der «Austauschfonds» hat sich mit dem grössten Gefangenenaustausch seit Jahrzehnten fast ganz geleert. Es ist zu befürchten, dass er schon bald wieder aufgefüllt wird. Die Unterdrückung Andersdenkender und die Einengung gesellschaftlicher und politischer Freiräume geht nämlich unvermindert weiter.