In der Analyse der Staatsschulden ist es wichtig, die Unterschiede der verschiedenen Definitionen zu kennen – denn nur dann können Äpfel mit Äpfeln verglichen werden. Ein Leitfaden zeigt, wie sich die Schweiz im internationalen Vergleich einreiht.
Sonntag, 30. Juni 2024: Tagesschau. Thematisiert wird die Aufrüstungsfinanzierung der Schweizer Armee – es geht um 10 Mrd. Fr. – durch Aufnahme neuer Schulden. Auf dem Bund, so wird berichtet, lasteten keine hohen Schulden. Mit 16,2% sei die Nettoschuldenquote vergleichsweise tief. Im Euroraum liege die Quote bei 75,3% und in den USA sogar bei 95,1%. Die Nettoschuldenquote, so wird erklärt, ent- spreche der Nettoschuld der öffentlichen Hand in Relation zum nominellen Bruttoinlandprodukt (BIP).
Bemerkenswert ist, dass die Tagesschau mit Nettowerten operiert. Meist stehen bei der Betrachtung der Staatsschulden aber Bruttowerte im Vordergrund. Im nationalen, innerschweizerischen Vergleich sind dies die Bruttoschuldenquote, im internationalen Vergleich die Schuldenquote gemäss den Definitionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Maastricht-Kriterien.
Leider kommt es oft vor, dass in der öffentlichen Diskussion die Kriterien zur Ermittlung der Staatsschuldenquoten vermischt werden. Im Folgenden soll daher versucht werden, ein wenig Licht ins Dunkel der Finanzstatistik zu bringen und Vergleichbarkeit zu schaffen.
Die Schweizerische Finanzierungsrechnung (FS-Modell)
Beginnen wir mit der Bruttoschuldenquote. Sie entspricht der Bruttoschuld, berechnet nach den Regeln der schweizerischen Finanzierungsrechnung, in Relation zum nominellen Bruttoinlandprodukt (BIP). Diese Finanzierungsrechnung, auch FS-Modell genannt, stützt sich auf die Datenbasis gemäss Harmonisiertem Rechnungslegungsmodell für die Kantone und Gemeinden.
Um die Vergleichbarkeit der Rechnungen von Bund, Kantonen, Gemeinden und Sozialversicherungen sicherzustellen, sind Anpassungen erforderlich. Das führt namentlich beim Bund dazu, dass die Zahlen der Haushaltrechnung mit der Finanzierungsrechnung nicht exakt übereinstimmen. Gründe sind die Zurechnung staatsnaher Be- triebe (z.B. ETH, Schweiz Tourismus), die Weglassung von Finanzderivaten und Abweichungen bei der jährlichen Rechnungsabgrenzung.
Für das Jahr 2023 wird die staatliche Bruttoschuld der Schweiz – sie entspricht der Summe aus laufenden Verbindlichkeiten sowie kurz- und langfristigen Finanzverbindlichkeiten zu Nominalwerten – mit 251,3 Mrd. Fr. ausgewiesen (rote Kurve in der untenstehenden Grafik). In Relation zum BIP für das Jahr 2023 von 795,3 Mrd. Fr. (blau) ergibt sich eine FS-Bruttoschuldenquote von 31,6% (grün).
Bruttoschuld, BIP und Bruttoschuldenquote der Schweiz (FS-Modell):
Die FS-Bruttoschuldenquote ist von Ende 1998 (50,2%) bis Ende 2019 (29,8%) kontinuierlich gesunken. Grund dafür ist die Tatsache, dass die Bruttoschuld konstant gehalten werden konnte (1998: 220,7 Mrd., 2019: 213,7 Mrd.), während das nominelle BIP deutlich zugelegt hat (1998: 439,5 Mrd., 2019: 717,3 Mrd. Fr.).
Der Anstieg der Bruttoschuld von Ende 2019 bis Ende 2023 um rund 38 Mrd. Fr. ist im Wesentlichen der Covid-Pandemie geschuldet. Weil gleichzeitig die Schweizer Wirtschaft um 10,9% gewachsen ist, hat sich die Bruttoschuldenquote nur moderat auf 31,6% erhöht. Sollten die Prognosen in etwa zutreffen, wird das BIP bis Ende 2027 stärker wachsen als die Bruttoschuld und die Bruttoschuldenquote wieder sinken.
Die Nettoschuld bzw. die Nettoschuldenquote berücksichtigt, dass die Bruttoschuld der öffentlichen Hand zumindest teilweise aus dem Finanzvermögen des Staates getilgt werden könnte. Entsprechend wer- den in der schweizerischen Finanzierungsrechnung (FS-Modell) die flüssigen Mittel, die Forderungen sowie die kurz- und langfristigen Finanzanlagen von der Bruttoschuld abgezogen. Für das Jahr 2023 rech- net sich so eine Nettoschuld von 125,2 Mrd. Fr. und eine Nettoschuldenquote von 15,7%.
Nettoschuld, BIP und Nettoschuldenquote der Schweiz (FS-Modell):
Vergleicht man die beiden oben abgebildeten Grafiken, dann fällt auf, dass sich die Brutto- und die Nettoschuldenquote von 1990 bis 2005 nicht parallel entwickelt haben. Das liegt daran, dass die Bruttoschuld in dieser Zeitspanne deutlich stärker gewachsen ist als das Finanzvermögen des Staates.
Government Finance Statistics Manual 2014 (GFS-Modell)
Um die internationale Vergleichbarkeit sicherzustellen, muss die schweizerische Finanzierungsrechnung mit den Richtlinien des «Government Finance Statistics Manual 2014» (GFS-Modell) des IWF in Einklang gebracht werden. Das führt zur IWF-Schuld und zur IWF-Schuldenquote. Gleich wie beim FS-Modell wird dabei zwischen Brutto- und Nettowerten unterschieden.
Die IWF-Bruttoschuld der Schweiz für das Jahr 2023 wird mit 304,7 Mrd. Fr. ausgewiesen und die IWF-Bruttoschuldenquote mit 38,3%.
Bruttoschuld, BIP und Bruttoschuldenquote der Schweiz (IWF):
Die IWF-Werte übersteigen die Werte der schweizerischen Finanzierungsrechnung deutlich. Das liegt zum Ersten daran, dass die IWF-Schuld breiter definiert ist. Sie erfasst (mit Ausnahme der Finanzderivate) das gesamte Fremdkapital des Staates. Eingeschlossen sind namentlich die Verpflichtungen gegenüber Pensionskassen und die sonstigen Verpflichtungen (Lieferantenkredite, Löhne, Sozialbeiträge, etc.). Zum Zweiten wird das Fremdkapital, besonders die ausstehenden Staatsanleihen, soweit möglich zu Marktpreisen bewertet. Die Bewertung zu Marktpreisen führt dazu, dass die IWF- Schuld bzw. die IWF-Schuldenquote stärker schwankt als die FS-Schuldenquote.
Bringt man von der IWF-Bruttoschuld die finanziellen Vermögenswerte ohne Beteiligungscharakter (Aktien und andere Anteilsrechte, Kollektive Kapitalanlagen, Finanzderivate) in Abzug, gelangt man zur IWF- Nettoschuld bzw. zur IWF-Nettoschuldenquote. Für das Jahr 2023 ergibt sich hier eine Nettoschuldenquote von 16,2%:
Nettoschuld, BIP und Nettoschuldenquote der Schweiz (IWF):
Fiskalregeln des Maastricht-Vertrags
Schliesslich gibt es auch noch die Maastricht-Definition. Die Maastricht-Schuld bestimmt sich nach den Fiskalregeln des Maastricht-Vertrags aus dem Jahr 1992. Für das Jahr 2023 rechnet sich für die Schweiz eine Maastricht-Schuld von 214,2 Mrd. Fr. und eine Maas- tricht-Schuldenquote 26,9%.
Schulden und BIP der Schweiz (Maastricht-Definition):
Die Maastricht-Schuld umfasst die Positionen Bargeld und Einlagen, Schuldtitel und Kredite. Das Bargeld steht für die Verbindlichkeiten des Bundes aus dem Münzumlauf. Der Münzumlauf wird notabene auch bei der IWF-Schuld einberechnet. Als Einlagen gelten die finanziellen Verpflichtungen des Bundes auf Sicht (Kontokorrente) und gegenüber der Sparkasse des Bundespersonals. Die Schuldtitel setzen sich zusammen aus den Geldmarktpapieren des Bundes und den Obligationen von Bund, Kantonen und Gemeinden. Bei den Krediten handelt es sich um nicht verbriefte finanzielle Verpflichtungen, bei den Kantonen und Gemeinden hauptsächlich um Bankkredite.
Die sehr eng gefasste Maastricht-Definition hat zur Folge, dass die Schulden deutlich tiefer ausfallen als die IWF-Bruttoschuld, aber auch tiefer als die FS-Bruttoschuld. Kommt dazu, dass die Maastricht-Schulden – gleich wie die FS-Schulden – zum Nennwert ausgewiesen werden.
IWF-Schuldenquoten im internationalen Vergleich
Im internationalen Vergleich kommt die IWF-Bruttoschuldenquote der Schweiz von 38,3% moderat daher. Besorgniserregend sind vor allem die Schuldenquoten von Japan (252,4%), Italien (137,3%) und den USA (122,1%).
Maastricht-Schuldenquoten im internationalen Vergleich
Der Maastricht-Vertrag legt für den Staatssektor der EU-Mitgliedstaaten einen Schuldenstand von maximal 60% des BIP fest. Zudem sollte das Jahresdefizit 3% des BIP nicht übersteigen.
Von den 20 EU-Ländern, die Teil des Euroraums sind (dunkelblaue Balken in der Grafik), sind bloss acht «Maastricht-konform». Gleich wie bei der IWF-Bruttoschuld schneidet die Schweiz auch hier vergleichsweise gut ab.
Fazit
Kennzahlen sind wertvoll und hilfreich. Sie erlauben einen relativen Vergleich, sei es im Rahmen der Bilanz- und Erfolgsanalyse von Unternehmen, in der Aktienanalyse oder eben in der Haushaltanalyse von Staaten und Teilstaaten.
Aber wer Kennzahlen unbesehen übernimmt und je nach Bedarf die gerade passende Kennzahl wählt, macht es sich zu leicht. Ein kritischer Blick auf die Zahlen über und unter dem Bruchstrich ist alleweil angesagt.
Max Lüscher-Marty