Die Misere Deutschlands verstärkt den wirtschaftlichen Abstand zwischen dem Euro-Raum und den USA. Diese Kluft hat gemäss Währungsfonds strukturelle Gründe – und dürfte so schnell nicht verschwinden.
Der Schein trügt. Auf den ersten Blick könnte man meinen, alles laufe in gewohnten Bahnen. So erwartet der Internationale Währungsfonds (IWF) für dieses und nächstes Jahr ein globales Wachstum von 3,3 Prozent, was zirka dem Potenzialwachstum der Post-Covid-Ära und somit dem Normalmass entspricht. Doch hinter der Zahl verbirgt sich ein Auseinanderdriften der grossen Wirtschaftsräume; der IWF erkennt gar ein «prekäres globales Wachstumsprofil».
Deutschland bremst den Euro-Raum
Ein Auseinanderdriften ist vor allem zwischen den USA und dem Euro-Raum zu beobachten. Während Amerikas Robustheit stets aufs Neue überrascht, scheint Europa nicht aus seiner Formschwäche herauszufinden. Der IWF hat daher in seinem «World Economic Outlook» die Wachstumsprognosen für die USA erneut nach oben korrigiert, während die Zahlen für den Euro-Raum nach unten angepasst wurden.
Behält der IWF recht, dürften die USA dieses Jahr, ähnlich wie 2024, etwa drei Mal so stark wachsen wie der Euro-Raum. Während den USA eine Expansion von 2,7 Prozent in Aussicht gestellt wird, traut man dem Euro-Raum nur ein Plus von 1 Prozent zu. Belastend wirkt dabei vor allem die Schwäche der europäischen Industrie und der Warenexporte. Und dies, obwohl sich der Konsum dank gestiegenen Realeinkommen erholt hat.
Europas Malaise ist vor allem ein deutsches Malaise. Nachdem Deutschland im vergangenen Jahr um 0,2 Prozent geschrumpft war, dürfte es im laufenden Jahr gemäss IWF um magere 0,3 Prozent zulegen. Damit bleibt das wirtschaftlich und politisch stark angeschlagene Land weit hinter anderen Euro-Staaten zurück. Selbst Frankreich (0,8 Prozent) und Italien (0,7 Prozent) wachsen weit stärker, ganz zu schweigen von Spanien (2,3 Prozent).
Fünf Mal höhere Gaspreise
Wie kann die Divergenz zwischen der amerikanischen und der europäischen Wirtschaft erklärt werden? Stehen dahinter zyklische und somit eher kurzfristige Faktoren, oder geht es um strukturelle Ursachen, die auch beim nächsten Konjunkturaufschwung nicht so schnell verschwinden werden? Aus Sicht des IWF ist Letzteres der Fall. Will heissen: Der transatlantische Graben ist weit mehr als nur die Folge einer für Europa derzeit etwas ungünstigen Konjunktur.
Die Wirtschaft in den USA hat viele strukturelle Vorteile gegenüber dem Euro-Raum. Dazu zählt das stärkere Produktivitätswachstum, vor allem – aber nicht nur – im Technologiesektor. Der IWF verweist zudem auf ein attraktiveres Unternehmensumfeld und den liquideren Kapitalmarkt. Das führe zu höheren Renditen für Investitionen, mehr Kapitalzuflüssen, einem stärkeren Dollar und letztlich einem Lebensstandard, der höher sei als in anderen Industrieländern.
Auch energiemässig sind die USA für Unternehmen vorteilhafter. Die Energiekosten für amerikanische Firmen liegen deutlich niedriger als jene für europäische. Besonders augenfällig ist das beim Erdgas. War der Gaspreis in Europa vor der Pandemie «nur» doppelt so hoch wie in den USA, ist er heute bereits fünf Mal so hoch. Der IWF diagnostiziert für Europa einen «dauerhaften negativen Preisschock».
Geld- und Finanzpolitik am Limit
Damit nicht genug: Die Washingtoner Organisation sieht Risiken, die dazu führen könnten, dass sich die wirtschaftliche Divergenz in kurzer Frist noch verstärkt. Das wäre dann der Fall, wenn sich Investoren aufgrund der hohen Staatsverschuldung vieler Euro-Staaten zusehends von der Region abwenden würden. Das hätte zur Folge, dass Europas Wachstum noch schleppender ausfiele als prognostiziert.
Eng damit verbunden ist für den IWF das folgende Risiko: Die Geld- und Finanzpolitik könnte im Euro-Raum gleichzeitig an Grenzen stossen. Dieses Szenario würde eintreffen, wenn erstens die Wirtschaftsschwäche dazu führt, dass der Leitzins erneut in den Tiefst- oder Negativbereich fällt. Und wenn zweitens das Ausbleiben von Sparmassnahmen bei hochverschuldeten Staaten zu steigenden Schuldzinsen führt, was den Handlungsspielraum dieser Staaten stark einschränken würde.
Doch die globalen Risiken verteilen sich nicht einseitig auf den Euro-Raum. Auch die USA sorgen beim IWF für Unsicherheit, etwa mit Blick auf Donald Trump. Einige seiner angekündigten Massnahmen, etwa Steuersenkungen und Ausgabensteigerungen, würden die Nachfrage stimulieren. Andere Massnahmen, etwa Zölle und Abschiebungen von Migranten, liessen das Angebot sinken. Beides, also mehr Nachfrage oder weniger Angebot, könnte das Inflationsproblem wieder verschärfen.
Warnung vor einer Boom-Bust-Dynamik
Der IWF sorgt sich in den USA indes nicht nur über steigenden Preisdruck. Mit gemischten Gefühlen bewertet er auch die von Trump angekündigten Deregulierungen. Der Abbau von Bürokratie kurble zwar das Wachstum an. Gleichzeitig sieht man die Gefahr, dass es im Finanzwesen erneut zu mehr Risikofreude, Verschuldung und somit zu grösserer Verletzlichkeit kommt. Resultat wäre eine gefährliche sogenannte Boom-Bust-Dynamik, von der auch der Rest der Welt betroffen wäre.