Die Lebenserwartung in der Schweiz hat sich in den letzten 150 Jahren mehr als verdoppelt. Sie dürfte in den kommenden Jahrzehnten weiter steigen. Das ist erfreulich, erfordert aber Anpassungen der Rentensysteme.
Will man den Fortschritt der Menschheit in eine einzige Zahl pressen, bietet sich dafür die Lebenserwartung an. Global und in der Schweiz ist die Lebenserwartung für Neugeborene in den letzten 100 bis 150 Jahren stark gestiegen. Die Bundesstatistiker notieren für die Schweiz seit 1876 mehr als eine Verdoppelung – von rund 41 Jahren im Durchschnitt beider Geschlechter auf fast 84 Jahre. Haupttreiber waren grosse Fortschritte in Hygiene, Medizin und Ernährung. Stark ins Gewicht fiel zunächst vor allem die grosse Reduktion der Kindersterblichkeit, doch auch das Sterberisiko für Erwachsene ist deutlich gesunken.
Die durchschnittliche Lebensdauer ist überdies noch einiges höher als die erwähnte Lebenserwartung. Denn die genannten Zahlen zur Lebenserwartung beruhen auf Periodentafeln. Diese zeigen eine Momentaufnahme und berücksichtigen nicht, dass es während der Lebenszeit der Betroffenen weitere Fortschritte geben dürfte. Gemessen an den realitätsnäheren Kohortentafeln dürften Neugeborene von heute im Mittel über 92 Jahre alt werden. In Zukunft werden viel mehr Menschen 100-jährig oder älter werden.
Das ist hocherfreulich. Aber die Schweiz hat es geschafft, aus dieser enormen Erfolgsgeschichte ein Problem für die Rentensysteme zu kreieren. Dies gilt vor allem für die AHV. Das ordentliche Rentenalter steigt nicht mit der Lebenserwartung mit, was Finanzengpässe in der AHV programmiert. Die Engpässe lassen sich zwar durch regelmässige Erhöhungen der Lohnabzüge und der steuerfinanzierten Subventionen umschiffen, doch der Preis ist eine starke Umverteilung von Jüngeren zu Älteren, weil die Jüngeren einen weit überproportionalen Teil der Zusatzkosten tragen müssen.
Die Stimmbürger entscheiden am kommenden 3. März über zwei Volksinitiativen mit unterschiedlichen Umverteilungsmodellen: noch mehr Umverteilung von Jung zu Alt via höhere AHV-Renten oder eine Bremsung der Umverteilung via höheres ordentliches Rentenalter. Die beiden Initiativen scheinen aus völlig unterschiedlichen Welten zu kommen, doch im Kern unterscheiden sie sich «nur» in der Umverteilungswirkung.
70 Prozent längere Zahlungen
Für die Finanzierung der Rentensysteme steht vor allem die Lebenserwartung im Pensionierungsalter im Fokus: Diese bestimmt, wie lange die Renten im Durchschnitt fliessen müssen. Bei der Gründung der AHV 1948 lag das ordentliche Rentenalter für Frauen und Männer bei 65. Das gilt auch heute wieder, nach einer zeitweiligen Reduktion des Frauenrentenalters.
Gemäss den Daten der Bundesstatistiker konnten 65-Jährige 1948 erwarten, im Durchschnitt beider Geschlechter noch knapp 14 Jahre zu leben. 2021 betrug die Restlebenserwartung in dieser Altersgruppe über 23 Jahre – fast 70 Prozent mehr. Diese Zahlen beruhen auf Kohortentafeln (Generationentafeln): Sie berücksichtigen, dass der Trend zur steigenden Lebenserwartung während des verbleibenden Lebens der betrachteten Personen weiter anhält. Sie sind deshalb eine bessere Basis für Schätzungen zu den Rentenverpflichtungen.
Eingriff in Alterungsprozess
Doch wie geht es mit der Lebenserwartung weiter? Laut einer oft genannten These in der internationalen Forschung gibt es ein «natürliches» Maximum der menschlichen Lebenszeit, und das bestmögliche Ergebnis für die Menschheit ist eine allmähliche Annäherung an dieses Maximum. Eine internationale Forschergruppe mutmasste zum Beispiel 2021 in einer Untersuchung auf Basis von Blutanalysen, dass das natürliche Maximum bei 120 bis 150 Jahren liegen könnte. Deklarierter Grund: Die menschliche Widerstandsfähigkeit breche in jener Altersregion komplett zusammen. Die Forschergruppe schloss aber nicht aus, dass es in Zukunft möglich sein wird, den Alterungsprozess zu bremsen.
Sogar eine Umkehr des Alterungsprozess ist ein ernstgenommenes Forschungsthema. Im vergangenen Jahr verkündete eine Forschergruppe diverser Universitäten eine chemische Methode zur Programmierung einer Verjüngung von Zellen. Ein führender Kopf der Gruppe, der Biologe David Sinclair von der bekannten US-Universität Harvard, hatte seine optimistische Sicht schon 2019 in einem populärwissenschaftlichen Buch veröffentlicht (auf Deutsch unter dem Titel «Das Ende des Alterns» erschienen).
Weitere Fortschritte kommen
Selbst unter Ausklammerung dieser Forschungspiste ist für die nächsten Jahrzehnte ein weiterer Anstieg der Lebenserwartung wahrscheinlich. Einen Überblick über bedeutende Einflussfaktoren lieferte im vergangenen Jahr eine Studie des Rückversicherers Swiss Re zur «Zukunft der Lebenserwartung». Die Versicherer haben ein starkes Interesse an möglichst realitätsnahen Prognosen.
Bedeutende medizinische Fortschritte sind laut der Analyse für die nächsten Jahrzehnte besonders in der Diagnose und Behandlung von Krebskrankheiten zu erwarten. Zentrale Stichworte dabei sind personalisierte und damit potenziell viel wirksamere und weniger schädliche Therapien sowie der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Diagnose.
Die Schweiz verzeichnete 2022 total rund 74 000 Todesfälle. Krebserkrankungen waren dabei mit über 17 000 Fällen die zweitwichtigste Todesursache. Die häufigste Todesursache waren mit rund 20 000 Fällen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei diesem Thema gibt es unter anderem Hoffnungen auf bessere Mittel gegen ein Übermass an Cholesterin, was die Risiken für Herz-Kreislauf-Krankheiten senken soll.
Der erwartete weitere Anstieg des durchschnittlichen Bildungsstands dürfte sich ebenfalls positiv auf die Lebenserwartung auswirken. Denn mehr Bildung geht oft mit einem stärkeren gesundheitsbewussten Verhalten einher.
Zwei Monate länger pro Jahr
Auch gegenläufige Einflussfaktoren sind gut möglich. Oft diskutierte Gesundheitsrisiken sind etwa eine Zunahme von Pandemien und der Klimawandel. Unter dem Strich erwarten aber viele Beobachter einen weiteren Anstieg der Lebenserwartung.
Eine Illustration davon liefern die Szenarien des Bundesamts für Statistik, die unter anderem auf Einschätzungen von Fachleuten beruhen. Im Referenzszenario steigt die Lebenserwartung für Neugeborene bis 2050 im Durchschnitt beider Geschlechter von knapp 84 auf über 88 Jahre (auf Basis der «pessimistischen» Periodentafeln). Dies entspräche einem Anstieg von knapp zwei Monaten pro Jahr und damit einem leicht tieferen Tempo als in früheren Jahrzehnten. Von 1950 bis 2000 stieg die Lebenserwartung im Mittel um 2,6 Monate pro Jahr, von 2000 bis 2021 um etwa 2,3 Monate.
Die Lebenserwartung für Neurentner ist hier dagegen auf Basis der realitätsnäheren Generationentafeln abgebildet. Laut dem Referenzszenario der Bundesstatistiker dürfte die Restlebenserwartung für 65-Jährige im Mittel der beiden Geschlechter von zuletzt 23,2 Jahren bis 2050 auf 26,3 Jahre steigen (vgl. Grafik). Dies würde bei unveränderten Jahresrenten ohne Erhöhung des ordentlichen Pensionierungsalters einen weiteren Rentenausbau um etwa 13 Prozent bedeuten.