Cioma Schönhaus fälschte Pässe, um Juden vor dem Tod zu retten. Dann flüchtete er in die Schweiz. Das ist seine Geschichte.
Beiläufig schnappte Michael Schönhaus am Radio den Namen Stella auf. Es ging um den umstrittenen Film über eine Jüdin, die in den letzten Kriegsjahren in Berlin Juden verriet, welche sich im Untergrund versteckt hatten. Im vergangenen September feierte das Werk Weltpremiere am Zurich Film Festival.
Stella? Hiess so nicht eine Schulkollegin seines Vaters, von der dieser immer wieder erzählt hat? Michael Schönhaus besorgte sich ein Ticket – und tatsächlich taucht in einer Filmszene Cioma Schönhaus auf, «min Bappe», wie der Sohn in seinem Basler Dialekt sagt.
Die Eltern von Cioma Schönhaus waren einst von Weissrussland nach Berlin emigriert, es blieb der russische Vorname: Cioma, die Übersetzung für Samson, die Figur aus dem Alten Testament.
Michael Schönhaus, Ciomas Sohn, treffen wir an einem milden Februartag in seiner kleinen Werbeagentur in der Nähe des Bahnhofs Enge in Zürich. Er ist der älteste von vier Söhnen, sie alle sind nach der Flucht ihres Vaters in die Schweiz in der Nähe von Basel aufgewachsen.
Mittlerweile läuft «Stella. Ein Leben» im regulären Kinoprogramm. In den Medien hagelt es Kritik. Auf Befremden stösst etwa, dass der deutsche Regisseur Kilian Riedhof bei sechs Millionen jüdischen Opfern ausgerechnet das Leben einer jüdischen Täterin ausbreitet.
«Sie war die Marilyn Monroe»
Im wirklichen Leben besuchten Stella und Cioma, beides Juden, in den ersten Kriegsjahren dieselbe Klasse für Modezeichnen an einer Kunstgewerbeschule in Berlin. Die blondierte Stella verdiente sich ein Zubrot als Aktmodell. «Sie war die Marilyn Monroe unter den Mädchen», so erinnerte sich Cioma Schönhaus später in seiner Autobiografie. «Und ich wäre gerne Arthur Miller gewesen», fügte er hinzu – Miller war der berühmteste von Monroes Ehemännern.
1943, die Kunstgewerbeschule hatte inzwischen schliessen müssen, trafen sich die beiden ehemaligen Klassenkameraden zufällig wieder auf der Strasse in Berlin. Etwas später wurde Stella von der Gestapo auf brutale Weise «gedreht» – unter Folter zwang man sie, nach Juden Ausschau zu halten und diese an die Polizei zu verraten. Mit der Zeit schien sie Gefallen daran zu finden. Als sogenannte Greiferin entwickelte Stella ein eigentliches Jagdfieber.
Oder wie sich ihr Biograf Peter Wyden ausdrückt: «Sie hat Blut geleckt.» Aus einer jüdischen Clique von etwa zwanzig Freunden, die sich in den ersten Kriegsjahren jeweils am Sonntagnachmittag privat zum Tanzen getroffen hatten, verriet sie später fast alle.
Zur gleichen Zeit machte Cioma das Gegenteil – er fälschte Pässe, damit Juden aus Nazideutschland flüchten konnten.
Stella hätte nach der zufälligen Begegnung mit Cioma auch ihn verraten können, wie sie das mit ihren Tanzfreunden tat. «Doch es kam anders, sonst würde es mich nicht geben», so greift sein Sohn Michael Schönhaus mehr als achtzig Jahre später vor.
Abtransport ins KZ
Am 2. Juni 1942 ist die Familie Schönhaus aufgerufen, sich in eine ehemalige Berliner Synagoge zu begeben. Vater und Mutter werden ins Konzentrationslager Majdanek abtransportiert. Cioma entgeht dem sicheren Tod im letzten Moment, sein Arbeitgeber hat ihn als unabkömmlich gemeldet: In einer Waffenfabrik stellt er metallene Läufe für Maschinenpistolen her. «Werde ich wohl eines Tages mit so einem Gewehr erschossen?», fragt er sich in seiner Autobiografie («Der Passfälscher»).
In der Waffenfabrik kommt Cioma in Kontakt mit Leuten, die für ausreisewillige Juden falsche Pässe beschaffen. Als ehemaliger Absolvent einer Kunstgewerbeschule wird er gefragt, ob er sich solche Fälschungen zutraue. Er versucht es. Schon bald wird für ihn das Fälschen von Pässen zur Leidenschaft. Das System ist simpel, die Ausführung erfordert Akribie. Aus einem echten Ausweis wird das Passbild aus den Ösen gelöst und durch ein neues ersetzt. Das fehlende Stück Stempel wird, unter einer Lupe und mit einem spitzen Japanpinsel, nachgezeichnet, mit Aquarellfarbe im originalen Violett.
Die Stempel stellen zumeist den deutschen Hoheitsadler oder das nationalsozialistische Hakenkreuz dar. Cioma freut sich diebisch, mit dem Zeichnen des Hakenkreuzes jüdische Leben zu retten. Nur etwas fehlt ihm noch, um sein Handwerk, auf das die Todesstrafe steht, zu perfektionieren: eine Ösenstanzmaschine, mit der das neue Passbild in den Ausweis eingefügt werden kann. Er kauft eine solche Maschine bei einem Schuhmacher, der sie für die Anbringung von Ösen zum Einfädeln von Schuhbändeln gebraucht hatte.
«Nie hat eine Arbeit so viel Spass gemacht wie damals», sagt Cioma Schönhaus rückblickend auf die damalige Zeit. «Es hat gekribbelt.» So erzählt er es in der Doku-Fiction «Die Unsichtbaren» des deutschen Regisseurs Claus Räfle, der ihn vor seinem Tod noch interviewen konnte.
Im Berliner Untergrund spricht sich die hohe Qualität von Ciomas gefälschten Pässen bald herum. Eine wichtige Rolle nehmen kirchliche Kreise ein, die zwischen ihm und den untergetauchten Juden vermitteln. Jede Woche überbringen sie ihm etwa zwanzig neue Passvorlagen. Bezahlt wird Cioma mit heissbegehrten Lebensmittelkarten. Die kann er gegen gutes Geld eintauschen – und er scheut sich nicht, das kleine Vermögen auszugeben.
Es ist absurd. Am 19. Juni 1943 erklärt Propagandaminister Joseph Goebbels Berlin für judenfrei. Doch in der deutschen Hauptstadt leben noch immer mehrere tausend Juden im Untergrund. Sie nennen sich U-Boote. Es bedeutet ein Leben in ständiger Todesgefahr. Auch Cioma hetzt zeitweilig täglich von Unterschlupf zu Unterschlupf, stets mit der Angst im Nacken, von einer misstrauischen Vermieterin erkannt, von einem Nachbarn verraten oder von der patrouillierenden Gestapo aufgegriffen zu werden. Vor allem junge Männer in Zivil fallen im damaligen Berliner Strassenbild auf und werden ständig kontrolliert.
Im Auge des Orkans
«Doch im Auge des Orkans ist es am ruhigsten», erzählt er später seinen Söhnen. Für den jungen Cioma – er war gerade einmal 20 Jahre alt – hiess das, dorthin zu gehen, wo ein untergetauchter Jude am wenigsten erwartet würde: zum Essen ins Hotel Kaiserhof, das als Hitlers Stammlokal bekannt war; oder zu Kaffee und Kuchen ins vornehme «Kempinski», wo an den Nebentischen Wehrmachtsoffiziere sassen. Wer sich in solchen Kreisen bewegt, lehrte ihn ein ebenfalls jüdischer Freund, werde bestimmt nicht nach dem Ausweis gefragt. Voraussetzung sei allerdings, genügend selbstbewusst aufzutreten.
Das konnte Cioma. Und er hatte Chuzpe. Wurde es eng und fragte jemand aufdringlich nach, putzte er ihn mit dem Hinweis ab, es handle sich um ein Kriegsgeheimnis, er könne keine weitere Auskunft geben. Das funktionierte überraschend oft. Der Passfälscher war, in der ganzen Not, in der er sich durchschlagen musste, unerschrocken und abenteuerlustig.
So hat er eines Tages die Idee, sich ein Segelboot zu kaufen. Kurz darauf ist er stolzer Besitzer einer kleinen gebrauchten Jolle namens «Kamerad». Segeln kann Cioma nicht, doch von solchen Kleinigkeiten lässt er sich nicht aufhalten – als Nächstes kauft er sich ein Buch, «Segeln für Anfänger». Fortan übt er mit seiner Jolle auf dem Wannsee – dort also, wo im Jahr zuvor in einer Villa anlässlich der Wannseekonferenz die «Endlösung der Judenfrage» beschlossen wurde.
Oftmals hat er auch unglaubliches Glück. Oder wie er sich nach Berliner Art ausdrückte: «Ich bin dem Totengräber noch einmal von der Schippe gehopst.»
Als es in Berlins Innenstadt, am Wittenbergplatz, zur Begegnung mit Stella Goldschlag kommt, klopft ihm sein Herz. Begehrt hat er sie schon in der Schule, doch sie übersah ihn. Jetzt hat er mehr zu bieten, sogar ein Segelboot. «Er wollte sie verführen», so bringt es Michael Schönhaus auf den Punkt.
Ein Date mit Stella
Diesmal nimmt Stella seine Einladung an, sie gehen in ein Café um die Ecke. Sie bestellt einen Tee. Noch viele Jahrzehnte später erinnert sich Cioma Schönhaus: «Als ich neben dem Teeglas meine Hand auf die ihre lege, nimmt sie sie nicht weg.»
«Hoppla», entfährt es ihm in «Die Unsichtbaren», als sei es gestern gewesen. Er habe Stella gefragt: «Hast du Lust, mein illegales Zimmer zu sehen?»
Auch jetzt sagt Stella nicht Nein. Aber sie sagt auch nicht Ja. Sondern sie fragt: «Meinst du nicht, dass du einen Fehler machst?»
Diese Reaktion hat Cioma vermutlich das Leben gerettet. Jedenfalls interpretiert er ihre Frage nachträglich als Liebeserklärung. Denn so kam er wieder zu Sinnen. «Ja, du hast recht, wir lassen das.»
Als Stella wenig später von der Gestapo gefoltert wird, ist die geheime Staatspolizei vor allem an der Wohnadresse des Passfälschers interessiert. Cioma Schönhaus war stets überzeugt: Sie hätte ihn nicht verraten. Was feststeht: Sie konnte ihn nicht verraten. Weil sie nicht wusste, wo er wohnte.
Der verlorene Ausweis
So tollkühn sich Cioma zuweilen im Berliner Untergrund bewegt, so liederlich ist er im Alltag. Das wird ihm zum Verhängnis, als er im Frühling 1943 eine Mappe in der Strassenbahn liegen lässt. In der Mappe ist auch sein russischer Ausweis. Darin steht zwar ein falscher Name – Peter Petrov –, aber das Foto ist echt und erst noch neu.
Von da an wird nach Cioma gefahndet, auf jedem Polizeiposten hängt ein Steckbrief mit seinem Foto. Jetzt kann er sich definitiv nicht mehr auf der Strasse blicken lassen. Einen letzten Unterschlupf findet er bei Helene Jacobs, einer bekannten Widerstandskämpferin in Berlin. In ihrer Wohnung verrichtet Cioma weiter seine Arbeit als Passfälscher – und bereitet seine eigene Flucht mit dem Fahrrad in die Schweiz vor.
Als Erstes bastelt er sich einen Ausweis, der ihn als Wehrmachtssoldat auf Heimaturlaub ausweist. In seinem Netzwerk kann er ein Original organisieren, es umfasst nicht weniger als achtzehn Stempel. Der Inhaber möchte den Ausweis nicht aus der Hand geben, er erlaubt ihm aber, in seiner Wohnung eine gefälschte Kopie anzufertigen. Fortan arbeitet Cioma in der Wohnung am Adolf-Hitler-Platz an seinem Ticket in die Freiheit.
Der Schuhmacher, der ihm bereits die Ösenstanzmaschine verkauft hat, besorgt ihm ein Fahrrad, was damals nicht einfach war. In einer Papeterie kauft sich Cioma Landkarten, bei einem Trödler einen gebrauchten, mit Fell bezogenen Militärtornister. Um die Tarnung perfekt zu machen, deckt er sich in einer Buchhandlung mit Naziliteratur ein.
Als sich Cioma am 7. September 1943 frühmorgens auf den Weg macht, muss er das Fahrrad durch die zerbombte Innenstadt Berlins tragen. Am Stadtrand nimmt seine Flucht Fahrt auf. Am zweiten Tag wird er von einem Polizisten angehalten. Dieser massregelt ihn. Er solle doch gefälligst den markierten Radweg benutzen und nicht mit dem Fahrrad auf der Strasse fahren.
Durch einen Bach in die Schweiz gerobbt
Eine Woche später robbt sich Cioma im deutschen Grenzort Öhningen, auf der nördlichen Seite des Bodensees, durch einen Bach. Derart überquert er die Grenze und taucht im schweizerischen Stein am Rhein in einem Weiher wieder auf.
Der erste Passant, den er völlig durchnässt anspricht, ist ein Thurgauer Kantonspolizist in Zivil. Cioma hat ein weiteres Mal Glück: Er wird von den Schweizer Grenzbehörden nicht zurückgewiesen, sondern als Flüchtling anerkannt.
In Basel schliesst er seine in Berlin begonnene Grafikerausbildung ab. Er gründet eine erfolgreiche Werbeagentur und hat aus zwei Ehen vier Söhne. Cioma Schönhaus stirbt 2015 im Alter von 92 Jahren.
Wiedersehen mit Stella
Stella Goldschlag wurde 1946 von einem sowjetischen Militärgericht zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, wegen ihrer Kooperation mit der Gestapo. Sie verbüsste die volle Haftzeit in berüchtigten sowjetischen Lagern, anschliessend kehrte sie nach Berlin zurück. Nach dem Tod ihres fünften Ehemanns zog Stella Goldschlag, verbittert und gebrochen, Anfang der 1980er Jahre nach Freiburg im Breisgau – keine Autostunde von Basel entfernt.
Laut seinem Sohn nahm Cioma Schönhaus wieder Kontakt auf mit Stella Goldschlag, sie tauschten sich einige Male aus. Es gab wohl wenige Personen, die sie so gut kannten wie er. 1994, im Alter von 72 Jahren, ertrank sie in einem Weiher in der Nähe ihres Wohnorts, vermutlich beging sie Suizid.