Das Grenzdorf am Genfersee zog wegen Schlamperei jahrelang zu wenig Steuern ein. Deshalb fehlten dem Dorf rund 1,5 Million Franken, wie ein Prüfbericht zeigt. Der Kanton warnt vor Konsequenzen.
Die Walliser Gemeinde St-Gingolph hat mindestens bis ins Jahr 2016 zurück zu wenige Steuerrechnungen ausgestellt. Sie hatte deshalb im September offene Forderungen von rund 1,5 Millionen Franken, wie NZZ-Recherchen zeigen. Das Dorf bekam Zahlungsprobleme, der Kanton schaltete sich ein.
Das Steuerchaos in St-Gingolph machte Anfang Januar Schlagzeilen. Die Gemeindeverwaltung wusste nicht sicher, welche Bürger und Firmen bereits ihre Steuern gezahlt hatten und welche nicht. Sie forderte deshalb ihre Einwohner per Brief dazu auf, entsprechende Zahlungen zu belegen. Vor dem Gemeindebüro bildeten sich Warteschlangen.
In St-Gingolph ist vielleicht jeder Zweite betroffen
Kurz nachdem die Lokalzeitung «Le Nouvelliste» darüber berichtet hatte, war in St-Gingolph zwar keine Warteschlange zu sehen, aber etwa jeder zweite Passant schien vom Steuerchaos betroffen. Die einen zeigten sich gelassen, die anderen empört. «Eine Schande», hatte ein Gastwirt ins Fenster seiner Kneipe geschrieben.
Nun wird das Ausmass des Chaos deutlich. Ein Bericht der kantonalen Finanzkontrolle, den die NZZ gestützt auf das Walliser Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat, zeigt ein kollektives Versagen des Gemeinderats und der Gemeindeverwaltung.
Schon der erste Satz der Finanzkontrolleure zu den Missständen hat es in sich: Da St-Gingolph nicht regelmässig Rechnungen ausgestellt habe, mangele es der Gemeinde an liquiden Mitteln. Erst nachdem die Kontrolleure Mitte 2024 ihre turnusgemässe Prüfung angekündigt hätten, habe die Gemeinde im Spätsommer nach monatelangem Nichtstun wieder Steuerrechnungen verschickt.
Vor allem deshalb fehlten der Gemeinde zwischendurch rund 1,5 Millionen Franken. Das ist für das Dorf mit seinen knapp 1000 Einwohnern viel Geld: Es entspricht einem Drittel des Jahresbudgets von 4,6 Millionen Franken.
Manche Unternehmen zahlten zu viele Steuern
Ein weiterer Bestandteil des Fehlbetrags waren knapp 190 000 Franken, welche die Gemeinde fast vier Jahre lang nicht von 194 juristischen Personen verlangt hatte. Umgekehrt kassierte St-Gingolph in anderen Fällen zu viele Steuern: Gut 110 000 Franken muss die Gemeinde an juristische Personen zurückerstatten, weil sie falsche Berechnungsgrundlagen nutzte.
Stutzig macht auch, dass St-Gingolph ab dem Herbst 2023 plötzlich keine Mahnungen mehr an säumige Schuldner verschickte, geschweige denn Betreibungen. Als die Gemeinde im Spätsommer 2024 das Inkasso vor dem Besuch der Finanzkontrolle reaktivierte, mahnte sie Zahlungen in Höhe von fast 200 000 Franken an – aber nur für die Steuerjahre bis 2020.
Wie konnte es zu diesem Chaos kommen? Die Finanzkontrolle nennt zwei Gründe: Erstens wechselte der Gemeindekassier seit 2020 mehrfach. Die Kassierer waren jeweils alleinige Sachbearbeiter ohne Vertreter. Manch einer sei «komplett überfordert» gewesen, sagen Involvierte. Die seit April amtierende Kassiererin wird nun laut dem Kontrollbericht von einem Treuhandbüro «begleitet».
Zweitens hatte die Gemeinde kein «System der internen Kontrolle», wie es der Kanton für jede Gemeinde vorschreibt. Die Gemeinde hatte nicht einmal die Aufgaben, Pflichten und Kompetenzen des Kassiers schriftlich festgehalten. Sie konnte auch die Vollmachten nicht finden, welche die Verantwortlichen zum Zugriff auf die Bankkonten der Gemeinde berechtigen sollen.
Der Kanton drängt St-Gingolph zum Handeln
Kurzum: Es herrschte Chaos. Deshalb schlug die Finanzkontrolle in ihrem Bericht von Ende November Alarm. Sie verwies ihre Departementsleitung auf einen Artikel im Walliser Gemeindegesetz, wonach der Kanton «alle notwendigen Massnahmen» ergreife, «um die Führung und Verwaltung des Finanzhaushaltes der Gemeinden zu gewährleisten».
So kam es zum Steuerbrief, der so viele in St-Gingolph empörte: Denn die Gemeinde überprüft nun auf Geheiss des Kantons, ob sie für die Jahre 2019 und 2020 wirklich alle Steuerrechnungen an juristische Personen verschickt hat. Für natürliche Personen prüft die Gemeinde das Gleiche sogar für die Jahre 2019 bis 2024.
Die Gemeinde hat Fristen bis Ende Februar bzw. Ende Mai, um die Steuerrechnungen und sonstigen Mängel zu korrigieren. Andernfalls drohen Konsequenzen bis zur Zwangsverwaltung durch den Kanton, wie der zuständige Regierungsrat Frédéric Favre auf Anfrage mitteilt.
Der Chef der Finanzkontrolle Peter Schnyder betont, dass St-Gingolph ein «sehr seltener Fall» sei. «Der grösste Teil der Gemeinden funktioniert sehr gut.»
Zu den offenen Fragen gehört vorerst, wie die Gemeinde trotz monatelang ausbleibenden Steuereinnahmen offenbar zahlungsfähig bleiben konnte. Womöglich zapfte sie dazu Reserven an. Die Gemeindekonten überprüfte die Finanzkontrolle mandatsgemäss nicht.
Was wusste der Revisor?
Das war Aufgabe der Revisionsfirma. Was wusste sie? Der zuständige Prüfer von der Walliser Firma Nofival verweist am Telefon darauf, dass die nichtöffentliche Version der jährlichen Berichte ausführlicher sei als die öffentliche. Erstere sieht nur die Gemeindeexekutive, letztere auch die Bevölkerung. Doch auch der nichtöffentliche Bericht 2023 beanstandete laut der Finanzkontrolle nicht die fehlende interne Kontrolle der Gemeinde.
Die Aufklärung in St-Gingolph erschwert, dass im Dorf seit Jahren Streitigkeiten bestehen. Die Spaltung zieht sich bis in die Exekutive. Zwei Gemeindepräsidenten wurden jeweils nach einer Amtszeit abgewählt.
Fragen stellen sich insbesondere zu Damien Roch von der FDP, der Ende Dezember abtrat und auch für die Finanzen zuständig war. Roch bezeichnet sich online als Betriebsökonom, diplomierter Treuhänder und Revisor. Wie konnte St-Gingolph unter ihm ab 2021 derart ins Steuerchaos geraten? Warum informierte Roch die Bürger nicht vor seiner angestrebten Wiederwahl als Gemeindepräsident im November über die Lage?
Am Telefon will Roch sich nach den angeblichen «Lügen in den Medien» erst nicht äussern, dann tut er es doch. «Das ist ein Sturm im Wasserglas», sagt er. Fehler gebe es nun einmal. Wegen seiner Abwahl habe er die Situation nicht mehr bereinigen können.
Dem Gemeindepräsidenten drohen weitere Leichen im Keller
Das muss nun Gérald Derivaz von der Bürgerliste tun. Der pensionierte Jurist trat sein Amt Anfang Januar an, als St-Gingolph wegen des Steuerchaos landesweit in die Medien geriet. Derivaz bedauert, dass es mit seinem Vorgänger Roch keine Amtsübergabe gegeben habe.
Immerhin, es kämen wieder Steuergelder rein, und die Gemeinde habe genügend liquide Mittel, sagt Derivaz. In einer Sache ist er sich sogar mit seinem Rivalen Roch – und der Finanzkontrolle – einig: Kriminelle Energie liege dem Steuerchaos nicht zugrunde.
Doch Derivaz sagt auch, dass nicht nur im Steuerinkasso, sondern ebenso in anderen Bereichen der Verwaltung viele Prozesse erst eingerichtet werden müssten. Gut möglich also, dass der neue Gemeindepräsident weitere Leichen im Keller findet.