Israel plant eine Offensive gegen die völlig überfüllte Stadt Rafah, wo über eine Million Menschen ausharren. Diese sind verzweifelt – und zunehmend wütend auf die Hamas.
Asma Syam versucht in ihren Sprachnachrichten oft, die Haltung zu wahren. Seit Beginn des Krieges antwortet die 42-jährige Französischlehrerin auf die Frage, wie es ihr gehe: «Bonjour, oui, ça va.» In den vergangenen Wochen erzählte sie manchmal mit ruhiger Stimme, sie habe schlecht geschlafen, weil sie sich vor den Bomben fürchte, die in der Ferne donnerten.
Mitte Februar nun klingt die Palästinenserin aufgebracht: «Die Moral ist auf null, ich überlege die ganze Zeit, was wir tun, wenn sie nach Rafah kommen. Ich fühle mich zerstört.» Sie ist, wie Hunderttausende andere, in die südlichste Stadt des Gazastreifens geflohen. In Rafah, wo einst weniger als 300 000 Menschen lebten, harren laut Hilfsorganisationen inzwischen rund 1,4 Millionen aus. Und jetzt sollen sie erneut flüchten. Denn Israel kündigte an, bald mit einer Offensive gegen die Stadt an der ägyptischen Grenze zu beginnen.
«Ich weiss wirklich nicht, wo wir noch hingehen sollen», sagt Syam, die ihre Wohnung in Khan Yunis Ende Dezember zurückliess, als die israelische Armee die Menschen im Quartier aufgefordert hatte, die Gegend zu verlassen. Sie habe viel geweint in diesen Tagen. Ihre gebrechlichen Eltern hätten sie zusammen mit Bekannten vom 3. Stock heruntertragen müssen, um sie ebenfalls nach Rafah mitnehmen zu können, erzählt sie.
Dort fand die Familie im Haus von Syams Schwester Unterschlupf, wo sie im Gegensatz zu Khan Yunis wieder Strom haben. Die Schwester und deren Mann sind Mediziner und erhalten ihren Lohn vom palästinensischen Gesundheitsministerium in Ramallah. Das Gehalt werde pünktlich bezahlt und sei deutlich höher als der Lohn der Ärzte, die bei der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde in Gaza angestellt seien, sagt Syam.
Die Familie gehört deshalb zu den wenigen in Rafah, die sich die astronomischen Preise der Lebensmittel auf den Märkten leisten können. Ihnen geht es zwar nicht besonders gut, aber deutlich besser als Hunderttausenden anderen, die in Zelten und provisorischen Unterkünften ausharren. In einer winterlichen Kälte von rund zehn Grad Celsius in der Nacht leben so viele Menschen auf den Strassen, dass diese teilweise kaum mehr passiert werden können.
«Die Lebensbedingungen in den Zeltstädten sind unmenschlich», sagt Hisham Mhanna, ein Sprecher des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, der seit Oktober in Rafah ist. «Die humanitäre Situation in Gaza generell und in Rafah im Besonderen verschlechtert sich jede Stunde», sagt er in einem Telefongespräch. Es mangelt an allem: sanitäre Anlagen, Essen, Trinkwasser und Medikamente. Das IKRK habe Fälle von Grippe, Covid, Hepatitis A, Windpocken und Hautausschlägen registriert. Viele Orte in Rafah seien von Abwasser überschwemmt.
Internationale Warnungen vor Offensive in Rafah
Im vergangenen Oktober, nach der Terrorattacke der Hamas, erliess das israelische Militär Evakuierungsbefehle für viele der 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens und forderte sie auf, in den Süden zu gehen. Nachdem Israel sich zu Beginn der Bodenoffensive auf den Norden von Gaza konzentriert hatte, rückten die Streitkräfte Anfang Dezember in den südlichen Teil des Küstenstreifens vor. Zurzeit steht Khan Yunis im Zentrum der Kämpfe. Am Donnerstag stürmte die israelische Armee das Nasser-Spital in Khan Yunis, da sie nach eigenen Angaben über Informationen verfügte, dass sich dort entführte Israeli befänden.
Während dieser vergangenen Kriegsmonate sind immer mehr Menschen nach Rafah geflüchtet, das als sichere Zone deklariert wurde, obschon auch dort regelmässig Bomben eingeschlagen sind. Nun will die israelische Armee am Boden auf Rafah vorrücken. Die Stadt ist laut dem Militär die letzte Bastion der Terroristen. Israel vermutet, dass sich wichtige Anführer der Hamas in Tunneln unter Rafah verstecken. Mutmasslich werden dort auch mehrere der über hundert noch lebenden israelischen Geiseln gefangen gehalten.
Obwohl unter anderem Präsident Joe Biden, der französische Präsident Emmanuel Macron sowie die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock Israel eindringlich vor Militäroperationen in Rafah gewarnt haben, lässt sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nicht von seinem Plan abbringen. «Wir kämpfen bis zum vollständigen Sieg, und das schliesst eine kraftvolle Operation in Rafah ein», sagte er am Mittwoch. Israel werde allerdings erst angreifen, wenn es der Zivilbevölkerung die Flucht aus den Kampfzonen erlaubt habe.
Die Frage bleibt: Wohin? Weite Teile der Küstenenklave liegen in Trümmern, es besteht die Gefahr von Blindgängern, zudem sind viele Abschnitte weiterhin aktive Kampfgebiete. Eine von Israel definierte «humanitäre Zone» bei al-Mawasi im Süden direkt am Meer ist bereits überfüllt. Die Grenzen zu Israel sind dicht, und Ägypten insistiert, die Palästinenser dürften nicht aus Gaza vertrieben werden.
Laut einem Bericht des «Wall Street Journal» legte Israel seinen ägyptischen Nachbarn Pläne vor, an über einem Dutzend Standorten im Gazastreifen jeweils 25 000 Zelte aufzubauen. Der IKRK-Sprecher Hisham Mhanna kritisiert, der Vorschlag sei keine nachhaltige Lösung: «Es gibt keinen Ort in Gaza, wo sich die Menschen in Sicherheit bringen können.» Die Französischlehrerin Asma Syam würde am liebsten in ihre Wohnung in Khan Yunis zurückkehren – falls das Gebäude noch steht.
Hamas zunehmend unbeliebt
Eine Militäroperation in der Nacht auf Montag zeigt das Dilemma, das für ganz Rafah gilt. Die israelische Armee griff ein Quartier in Rafah an, um zwei Geiseln zu befreien, die in einem Wohnhaus festgehalten wurden. Sowohl der IKRK-Sprecher Mhanna als auch die Französischlehrerin Syam erzählen von massiven Bombardierungen in jener Nacht. «Ganze Nachbarschaften wurden in Schutt gelegt», sagt Mhanna. Laut den israelischen Streitkräften musste die Operation mit starkem Beschuss aus der Luft unterstützt werden, weil Hamas-Terroristen aus naheliegenden Gebäuden schossen.
Bei den Kämpfen wurden gemäss der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa, die sich auf medizinisches Personal vor Ort beruft, mindestens 70 Personen getötet und etwa 160 verletzt. In einem Gebiet, in dem so viele Menschen dicht gedrängt Schutz suchen, kommen selbst bei einem kurzen und begrenzten Angriff sehr viele ums Leben.
In dieser Misere sind die Menschen in Gaza wütend und entsetzt über Israels Kriegsführung. Hinzu kommt offenbar ein wachsendes Unverständnis gegenüber der Hamas. Eine Palästinenserin in Rafah, die anonym bleiben möchte, da sie sich vor der Hamas fürchtet, erzählt via Sprachnachrichten, es habe kleine Demonstrationen gegen die Hamas gegeben. «Es gibt viele, die gegen die Hamas sind, aber sie können das nicht öffentlich sagen, weil sie Angst haben.»
Sie schickt ein Video, das schwarz gekleidete, maskierte Männer mit Gewehren zeigt, die mit einigen Personen streiten. In einer weiteren Nachricht erzählt sie, sie habe gehört, dass Hamas-Kämpfer Menschen davon hätten abhalten wollen, eine Hilfslieferung zu stürmen. Sie hätten ein paar Mal in die Luft geschossen, dabei sei ein Junge von einer Kugel getötet worden. Der Vorfall kann nicht überprüft werden, doch dass solche Geschichten kursieren, zeigt, wie schlecht der Ruf der Hamas bei Teilen der Bevölkerung sein muss.
Die Erzählungen der Palästinenserin stimmen mit anderen Medienberichten überein, wonach immer mehr Menschen in Gaza denken, dass sich die Hamas mit ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober verkalkuliert habe.
«Wir in Gaza haben alles verloren», sagt die Palästinenserin. «Wir haben bis jetzt nichts gewonnen, und ich glaube auch nicht, dass wir irgendetwas gewinnen werden.»
Text: Karin A. Wenger, Rewert Hoffer
Grafik: Andrin Engel, Adina Renner
Bildredaktion: Reto Gratwohl