Die Regierungspartei schürt Ressentiments gegen die muslimische Minderheit. Dabei gäbe es genug andere Themen.
Die ersten Wochen der indischen Wahlen verliefen noch ruhig. Fast eine Milliarde Inder und Inderinnen wählen seit Mitte April ein neues Parlament, die Urnengänge sind nach Regionen aufgeteilt und ziehen sich über sieben Wochen hin, bis Anfang Juni die Resultate bekanntgegeben werden. Seit einigen Tagen hat sich aber ein Thema in den Wahlkampf geschlichen, das die Gemüter in Indien erhitzt wie kaum ein anderes: die Religion.
Premierminister Narendra Modi, der im Juni wohl für eine dritte Amtszeit bestätigt werden wird, verfolgt eine religiös-nationalistische Agenda. Hindutva heisst seine Ideologie, die Indien zum Heimatland für Hindus machen will. Es ist ein Bruch mit dem indischen Ideal, ein säkulares Land mit vielfältigen, gleichberechtigten Religionen zu sein. Hindutva heisst auch: Die grösste Minderheit im Land, die Muslime, wird an den Rand gedrängt.
Seit Wochen verschärft Modis Partei, die BJP, den Ton gegenüber den Muslimen. So zeigte ein Cartoon den Oppositionsführer Rahul Gandhi, wie er ein riesiges Ei mit der Aufschrift «Muslime» in ein Nest legt, in dem andere Eier, beschriftet mit den Namen von Minderheiten wie den indigenen Stämmen und den benachteiligten Kasten, liegen. Gandhi füttert im Cartoon den Vogel aus dem «Muslimen»-Ei so lange, bis dieser zu gross wird und die anderen Minderheiten aus dem Nest schubst.
Die Botschaft: Die Opposition will Muslime bevorteilen. Die BJP spielt gerade Minderheiten gegeneinander aus.
Modi nennt die Muslime «Eindringlinge»
Auch Modi selbst hält sich in seinen Wahlkampfreden nicht mehr zurück. Im April sagte er etwas verklausuliert, dass die Opposition Geld an jene verteilen wolle, «die mehr Kinder haben», und fragte die Menge: «Soll euer hart verdientes Geld den Eindringlingen gegeben werden?» Modi meinte damit offensichtlich die Muslime. Es gehört zur Hindutva-Erzählung, dass Muslime in den indischen Subkontinent eingedrungen seien und eigentlich nicht dorthin gehörten.
BJP-Führer sprechen immer wieder davon, dass Muslime mehr Kinder hätten als Hindus und deshalb von der Minderheit bald zur Mehrheit werden könnten. Der Wirtschaftsrat des Premierministers veröffentlichte Anfang Mai eine demografische Studie, wonach der Anteil der Hindus an der Bevölkerung Indiens seit 1950 um fast 8 Prozent gesunken ist, der Anteil der muslimischen Bevölkerung dagegen um 43 Prozent gestiegen ist.
Der unabhängige demografische Think-Tank Population Foundation of India kritisierte, dass die Studie mit den Zahlen Verwirrung stifte: Der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung betrug 1950 9,84 Prozent und bei der letzten Befragung 14,09 Prozent – das entspräche einer Steigerung von 4,25 Prozentpunkten. Die regierungsnahen Studienautoren aber verrechneten den Anstieg von 9,82 zu 14,09 zu einer Steigerung um 43 Prozent – oder: Sie jonglierten mit den Zahlen so lange, bis sie besorgniserregend aussahen.
Zwar haben Muslime in Indien höhere Geburtenraten, diese haben sich aber in den vergangenen Jahren jenen der Hindus angeglichen: Hindus bekommen durchschnittlich 1,94 Kinder, Muslime 2,36 – der Trend für beide Bevölkerungsgruppen ist abnehmend.
Aber die Schlagzeilen in den grossen indischen Nachrichtensendungen waren bereits ganz im Sinne von Modi und der BJP: Die Hindus sind bedroht von einer explodierenden muslimischen Minderheit, die bald eine Mehrheit sein könnte.
Im Wahlkampf beklagt Modi einen «Vote Jihad»
Jüngst wurde Modi in Wahlkampfreden noch expliziter: Er sprach in einer Rede von «Vote Jihad», einer Verschwörungstheorie, gemäss der die Muslime versuchen, den Wahlkampf zu kapern. Auch warf er der Opposition vor, die Interessen des Nachbarlandes Pakistan zu vertreten.
Mehrere Oppositionspolitiker protestierten daraufhin bei der Wahlkommission. Diese wäre eigentlich dafür verantwortlich, Politiker, die religiösen Hass schüren, vom Wahlkampf auszuschliessen. Bis anhin erweist sich die Kommission allerdings als relativ zahnlos.
Die Wiederwahl ist Modi und seiner Partei kaum zu nehmen – zu populär ist die Partei in Nordindien. Trotzdem hat sie sich entschieden, noch einmal mit Religion Wahlkampf zu machen und Ressentiments anzufachen. Nach zehn Jahren an der Macht hätte Modi eigentlich genug Themen, um einen erfolgreichen Wahlkampf zu führen. Zwar ist das Land autoritärer geworden, aber Modi hat auch die Infrastruktur verbessert, die Wirtschaft wächst, und die vielen Subventionen und Wahlgeschenke helfen der ärmsten Bevölkerung.
Viele Beobachter erwarten, dass Modi mit seiner dritten Amtszeit in eine Vermächtnis-Phase eintreten werde. Er ist 73 Jahre alt, eine vierte Amtszeit wird es für ihn kaum geben. Nicht zuletzt westliche Partner hofften, dass Modi im Wahlkampf mit seinen wirtschaftlichen und aussenpolitischen Errungenschaften punkten wolle. Sie suchen die Nähe zu Indien als wirtschaftlicher und geostrategischer Partner und sähen gerne, dass sich Modi einmittet. Diese Hoffnungen werden vorerst enttäuscht, wie der Wahlkampf zeigt.








