Weltweit platziert der Einwanderersohn aus einer Pariser Banlieue grossformatige Fotografien im öffentlichen Raum, um Unrecht anzuprangern. Mitten in der von Touristen überrannten Lagunenstadt rückt er nun die Träume von Migranten ins Blickfeld.
Jawad Allazkani hat es geschafft. Der Syrer lebt seit 2016 in Paris. Gemeinsam mit seiner Mutter baut er ein Catering-Unternehmen auf, das auf syrische Küche spezialisiert ist. Die Mama kocht, der Sohn nahm 2021 an einem Förderprogramm für Migranten teil, um sein Startup Middle Eats weiterzuentwickeln. Jetzt steht der 27-Jährige auf dem Markusplatz in Venedig und schaut auf die historischen Prokurazien: An der Renaissancefassade des Palasts flattert sein Porträt im Wind.
Allazkani ist einer von hundert Migranten, deren grossformatige Fotos vorübergehend an einem der bezauberndsten Orte der Welt zu sehen sind. «Dreams in Transit» heisst die Installation. Konzipiert hat sie der französische Street-Art-Künstler JR, der mit seinen vergänglichen Plakataktionen weltweit Aufsehen erregt.
Ins helle Licht
Mit dem neuesten Werk «Träume auf der Durchreise» verwandelte JR die 150 Meter lange Fassade der Procuratie Vecchie im Herzen der Lagunenstadt. Der ehemalige Graffiti-Sprayer aus Paris rückt Migranten vom Rand der Gesellschaft ins helle Licht des Markusplatzes. «Für uns ist das ein Weg, die Debatte über Migration zu vermenschlichen», sagt Amandine Lepoutre, die das Projekt mit der Stiftung Art for Action kuratiert hat.
Die Fotoinstallation ist Teil des Projekts «Inside Out», mit dem JR seit 2011 Menschen sichtbar macht, die oft unsichtbar sind. Spektakulär geschehen ist das auch an der israelischen Grenzmauer in Jerusalem, in den Favelas Lateinamerikas, in der angegriffenen Ukraine oder an der amerikanischen Grenze zu Mexiko. 500 000 Menschen haben sich mittlerweile für das grösste partizipative Kunstprojekt der Welt ablichten lassen. Sie kehrten für «Inside Out» ihr Innerstes nach aussen.
In Venedig jedoch hat sich der Blickwinkel verkehrt. Wie immer posieren die Menschen vor einer weissen Leinwand mit unterschiedlich grossen schwarzen Punkten, die Teil des typischen JR-Designs ist. Statt Gesichter zu porträtieren, hat die Fotografin Sarah Makharine für «Dreams in Transit» die Migranten von hinten abgelichtet. So teilen die Betrachter auf dem Platz die Perspektive der Flüchtlinge: Sie schauen zusammen in die Zukunft.
Wie Allazkani, der Middle-Eats-Gründer aus Syrien, erhielten die porträtierten Migranten Unterstützung von der Stiftung The Human Safety Net, die vom italienischen Versicherungskonzern Generali mit 16 Millionen Euro im Jahr finanziert wird und die ihren Sitz in Venedig in den Prokurazien hat.
Seit 2017 fördert die Stiftung auch die Eingliederung von Flüchtlingen mit Programmen für Existenzgründer und zur beruflichen Ausbildung. Seit dem Start hat The Human Safety Net 14 000 Migranten in sechs Ländern, darunter auch in der Schweiz, unterstützt. Die Stiftung trug so zur Gründung von 650 Startups bei. «Wir helfen Migranten, ihr Potenzial zu entfalten», sagt die Chefin Emma Ursich.
Gemeinsam mit dem Kunstkollektiv Art for Action arbeitete Ursich anderthalb Jahre daran, Europas wohl meistfotografierten Platz zu einer Leinwand zu machen. «Es gibt keinen besseren Ort für unsere Botschaft als Venedig», sagt sie.
Würgegriff der Kommerzialisierung
Tatsächlich: Mehr Sichtbarkeit geht kaum. In Trippelschritten schieben sich die Touristen an Souvenirläden und Fast-Food-Theken durch die Gassen zum Markusplatz, dem Hotspot einer Stadt, die täglich von 120 000 Besuchern überrannt und vom Würgegriff der Kommerzialisierung entstellt wird.
Im Sommer 2025 erreichte der Ausverkauf Venedigs einen neuen Höhepunkt. Ende Juni hatte Jeff Bezos das Weltkulturerbe mit seinem Hochzeitsfest in Beschlag genommen. Der Amazon-Gründer verwandelte die Stadt mit einer 30 Millionen Euro teuren Party drei Tage lang in einen Spasspark für Milliardäre. Die Bilder der Glamour-Sause gingen um die Welt.
Nach Bezos kam dann im August Netflix in die Lagune. Der amerikanische Streamingdienst filmte die fünfte Staffel des Serien-Hits «Emily in Paris» mit Lily Collins in der Titelrolle – diesmal zwischen den Gondeln auf dem Canal Grande, Murano und dem Markusplatz. Nachdem Emily den Massentourismus in Paris beflügelt hat, wird sie demnächst die Vermarktung Venedigs forcieren.
Umso überraschender ist, dass der Street-Art-Künstler JR Anfang September einen der weltweit symbolträchtigsten öffentlichen Räume zurückeroberte. Er sagt: Kunst muss immer zu Kommunikation führen. Auf dem Markusplatz will er die Auseinandersetzung mit dem Leben von Migranten anregen.
Stets mit Hut und Sonnenbrille
JRs Geschichte begann in einem Aussenbezirk von Paris. Er ist illegal als Sprayer unterwegs, als dort schwere Unruhen ausbrechen. Der Sohn osteuropäischer und tunesischer Einwanderer fotografiert die Gesichter der jugendlichen Revolte und klebt die Porträts nachts in den wohlhabenden Vierteln der Pariser Innenstadt an die Häuserwände. Mit 28 Jahren gelingt ihm der internationale Durchbruch.
Der Franzose, der unter Pseudonym arbeitet und stets mit Hut und Sonnenbrille auftritt, gewinnt 2011 den mit 100 000 Dollar dotierten TED-Preis für innovative Ideen. Mit dem Geld finanziert er das Projekt «Inside Out». Seine grossflächigen Fotografien platziert er weltweit an Häuserfronten, Dächern, Eisenbahnzügen und Grenzmauern.
Die Frage, um die JRs ganzes Werk kreist, lautet: Kann Kunst die Welt verändern? In Venedig tut sich die Kuratorin Amandine Lepoutre nicht leicht mit der Antwort. Gewiss könne Kunst Menschen verbinden und sie mobilisieren und damit etwas Wichtiges auslösen. «Kunst kann der erste Schritt sein, die Welt zu verändern», sagt die Mitgründerin des Kunstkollektivs Art of Action.
Darauf setzt man auch bei The Human Safety Net. Vor drei Jahren hat die Generali-Stiftung das 3000 Quadratmeter grosse und vom Architekturbüro David Chipperfield restaurierte Dachgeschoss der alten Prokurazien bezogen. Nach fünf Jahrhunderten wurde der Palazzo, in dem einst die mächtigen Prokuratoren Venedig verwalteten, erstmals der Öffentlichkeit als innovativer Ausstellungsraum, als Veranstaltungsort und lebendiger Treffpunkt zugänglich gemacht.
Hier wird die Installation «Dreams in Transit» noch bis März 2026 durch eine Dauerausstellung von fünf Kunstschaffenden ergänzt. Ein Gebilde leuchtender Globen evoziert eine geeinte und vernetzte Welt. 700 Kilo ausrangierter Bettlaken, die in Wäschereien eingesammelt und zum «Turm zu Babel» aufgehäuft wurden, erinnern an den Alltag vieler Migrantinnen, die im Hotelgewerbe Beschäftigung finden.
Auch die Porträtierten vom Markusplatz trifft man wieder. Sie erzählen in der Tonaufnahme «Echoes of Dreams» ihre Träume.
Jawad Allazkani ist einer von ihnen. «Früher dachte ich nicht einmal, dass ich träumen kann», sagt der Syrer, als er unter seinem Foto auf dem Markusplatz steht.