In Ravenswood, einem Quartier in Chicago, begegnet man statt Al Capone Eichhörnchen, flaniert auf Bauernmärkten und plaudert in gemütlichen Cafés. Mit der berüchtigten Verbrechermetropole hat das Viertel so wenig zu tun wie mit der Downtown mit ihren Wolkenkratzern.
Bei Chicago denken viele an Schiessereien, Kriminalität, Gangs und Drogen. Dieser gefährliche Betondschungel existiert durchaus; aber es gibt auch ein anderes Chicago. Zum Beispiel das Quartier Ravenswood. Linden säumen die Strassen; Eichhörnchen und Hasen springen über die Rasen vor den Häuschen. Viele Bewohner führen frühmorgens und spätabends ihre Hunde aus, joggen oder bewundern die Blumengärten mit Osterglocken, Tulpen und Feuerlilien. An den Eingängen stehen Schilder mit Sprüchen wie «Love is Love» oder «Hate Has No Home Here».
Man fühlt sich eher wie in einem Dorf als wie in der Millionenstadt
All die zweistöckigen Häuser sehen ähnlich aus. Eine Treppe führt auf eine kleine Veranda vor der Eingangstüre. Hier sitzen die Leute am Abend und beaufsichtigen die Kinder, die im Vorgarten spielen. Hinter dem Haus gibt es ebenfalls einen Rasen, wo man im Sommer draussen sitzt und grilliert, sowie die Garage und die Alley, wo die Container auf den Müllwagen warten. Das hat den Vorteil, dass es in den heissen Sommermonaten nur in den Hinterstrassen stinkt und sich Ratten und gelegentlich Kojoten nicht auf der Vorderseite herumtreiben.
Im dörflichen Ravenswood vergisst man leicht, dass man sich in der drittgrössten Stadt der USA befindet. Die Nachbarn lassen keine Gelegenheit für eine Plauderei aus. Da ist zum Beispiel Richard, ein pensionierter Architekt. Ist er nicht gerade mit dem Velo unterwegs, sieht man ihn meist in seinem Blumengarten. Am liebsten spricht er über ägyptische und südamerikanische Pyramiden. Weil er unsere Namen immer wieder vergisst, ist er dazu übergegangen, uns nur noch mit «Hi Neighbor!» zu begrüssen.
Im nahe gelegenen Welles-Park finden im Sommer Freiluftkonzerte statt, auf einem Naturspielplatz klettern Kinder auf Baumstämmen herum, und auf dem Sportfeld wird Baseball gespielt. Samstags trifft man sich auf dem North Center Town Square jeweils auf dem Farmers’ Market. Bauern aus der Umgebung verkaufen hier frisches Gemüse, Früchte, Käse, Butter, Honig und Brot. Alles bio. Das ist bemerkenswert, weil es in den USA auf dem Land, wo die Nahrungsmittel eigentlich herkommen, oft kaum gutes Essen zu kaufen gibt. Diese Gebiete nennt man «food deserts».
Philippinisch-kubanische Fusion-Küche
Eines der originellsten Cafés im Viertel ist das winzige «Spoken». Es hat nur wenige Tischchen und wird von Leuten aus Louisiana betrieben. Entsprechend ist das Essen von der Cajun-Küche geprägt. An der Wand hängt ein Büchergestell mit Südstaatenliteratur. Während man sonst in den USA nach einer Stunde freundlich, aber bestimmt aus den Restaurants gedrängt wird, verbringen hier viele Anwohner den ganzen Vormittag an ihrem Laptop. Das Personal scheint vorwiegend nonbinär zu sein, und die Gäste sind divers, auch was die Hautfarbe angeht. Das fällt auf, denn die Segregation, die Chicago nach wie vor prägt, zeigt sich auch in Ravenswood. Es herrscht zwar eine weltoffene Atmosphäre, aber Afroamerikaner sieht man hier selten.
Neben dem «Spoken» befindet sich das kleine Restaurant «Bayan Ko». Es wird von einem Filipino und seiner kubanischen Frau geführt und offeriert – philippinisch-kubanische Küche! Die Kombination klingt abenteuerlich, und so schmeckt sie auch.
Gegenüber dem «Spoken» befindet sich die Montrose-Station des L-Train. Die Hochbahn bringt einen in einer halben Stunde in den Loop, das Zentrum Chicagos mit den Wolkenkratzern. Der L-Train ist reizvoll, weil er im Gegensatz zur New Yorker Subway oberirdisch verläuft – gelegentlich so nahe an den Hochhäusern vorbei, dass man in die Zimmer sieht. In der Downtown findet man auch den Millennium-Park mit der berühmten «Bean»-Skulptur von Anish Kapoor sowie Frank Gehrys Konzertpavillon, der aussieht wie eine riesige, halbgeöffnete Sardinendose, die Amok läuft.
Sowohl Ravenswood wie auch der Loop gehören zu Chicago, aber es ist, als ob es zwei völlig verschiedene Städte wären.
Insider-Tipps
Trinken: Guten selbstgerösteten Kaffee gibt es im «Spoken»-Café, das auch Spezialitäten aus dem südlichen Louisiana anbietet: https://spokenchicago.com/
Essen: Eines der originellsten Restaurants in Ravenswood, ja in ganz Chicago ist das «Bayan Ko», das philippinisch-kubanische Fusion-Küche anbietet (auch Take-away und Lieferdienst): https://bayankochicago.com/news
Einkaufen: Auf dem Farmers’ Market auf dem North Center Town Square fühlt man sich definitiv nicht wie in einer Millionenstadt: https://www.northcenterchamber.com/northcenter-farmers-market
Machen: Joggen oder mit Kindern spielen im Welles-Park: https://www.chicagoparkdistrict.com/parks-facilities/welles-gideon-park
Hingehen: In den Millennium-Park im Stadtzentrum mit der Konzerthalle von Frank Gehry, der «Bean»-Skulptur von Anish Kapoor und erstklassigen Gratiskonzerten unter freiem Himmel: https://www.chicago.gov/city/en/depts/dca/supp_info/millennium_park.html
Vermeiden: In den USA sind 20 Prozent Trinkgeld üblich, und das Personal ist bei den knappen Löhnen darauf angewiesen. Mit den in der Schweiz üblichen 10 Prozent macht man sich unbeliebt.